Tote im Salonwagen
– und sie besaßen die erschreckende Fähigkeit, etwas aus Grins Gemüt an die Oberfläche zu ziehen, was längst vergessen und unwiderruflich verblichen schien: ein Lasurblau.
Seinen Fingern, die immer noch an ihrer Haut lagen, wurde auf einmal sehr heiß. Er wollte sie wegziehen und konnte es nicht. Statt dessen legte Nadel ihre Hand darauf. Von der Berührung zuckten sie beide zusammen.
»Das geht nicht … Ich hab ein Gelübde abgelegt … Das ist doch zwecklos … Geht gleich vorüber …«, murmelte sie wirr.
»Das meine ich auch … Es führt zu nichts …«, stimmte er mit Inbrunst zu.
Und beugte sich im nächsten Moment ruckartig vornüber, saugte sich an ihren geschwollenen Lippen fest. Sie schmeckten ein wenig nach Blut.
Bevor sie gingen, verharrten sie einen Moment auf der Schwelle – so als wollten sie den seltsamen Ort für immer im Gedächtnis behalten, wo etwas geschehen war, das zu benennen Grin sich scheute.
Der umgeworfene Sessel. Der umgeschlagene Teppichsaum. Die drei blutigen Körper. Der scharfe Petroleumgeruch, darunter, kaum wahrnehmbar, ein feinerer: Schießpulver.
Und hier sagte Nadel etwas Überraschendes, wovon ihm schauderte.
»Wenn ein Kind daraus würde … Was würde aus ihm … Nach alledem?«
Grin riß ein Streichholz an und warf es auf den Boden. Ein lustiges Flämmchen züngelte blau durch den Salon.
Es war Nacht. Stille.
Außer Jemelja, den man drüben im Kabinett von Zeit zu Zeit umblättern hörte, schliefen alle.
Grin saß im Schlafzimmer neben dem Bett und schaute Nadel an. Ihr Atem ging tief und gleichmäßig, manchmal lächelte sie im Schlaf.
Er konnte nicht weggehen – sie hielt seine Hand fest.
So saß er eine Stunde und zehn Minuten. Viertausendzweihundertundsiebzehn Herzschläge lang.
Nach allem, was geschehen war, hatte Grin sie nicht nach Hause gehen lassen, sondern in ihr Geheimquartier mitgenommen. Sie hatte den ganzen Abend geschwiegen, sich an keinem Gespräch beteiligt, nur milde gelächelt, so wie man sie nie zuvor hatte lächeln sehen. Sie hatte bis zu diesem Tag überhaupt kein einziges Mal gelächelt.
Dann hatten sie sich schlafen gelegt. Die Jungen auf demFußboden im Salon, der Dame generös das Schlafzimmer überlassend. Grin wollte erst noch den Sprengstoff fertigstellen.
Er war kurz zu Nadel hineingegangen. Sie hatte seine Hand genommen. Lange Zeit lag sie so und schaute nur. Sie schwiegen.
Als sie dann doch etwas sagte, war es wieder ein überraschender Satz.
»Du und ich, wir sind wie zwei Giraffen.« Dazu ein leises Lachen.
»Wieso Giraffen?« Grin zog verständnislos die Stirn kraus.
»Als Kind hab ich in einem Buch so ein Bild gesehen. Zwei Giraffen. Närrische Tiere, so schlaksig. Standen da mit gekreuzten Hälsen und sahen aus, als wüßten sie in ihrem Ungeschick nicht, was sie miteinander anfangen sollten.«
Dann schloß sie die Augen und schlief ein, während Grin über ihre Worte nachdachte.
Als ihre Finger sich zuckend von ihm lösten, stand er leise auf und verließ das Schlafzimmer. Die Sprenggelatine mußte fertig werden.
Im Korridor wanderte sein Blick zufällig in Richtung Wohnungstür und blieb dort hängen.
Es gab wieder ein helles Viereck. Unter dem Briefschlitz.
Auf dem Zettel stand:
Pech! Beide entwischt. Aber es gibt eine Chance, die Schlappe wettzumachen. Morgen treffen sich Posharski und Fandorin noch einmal. Brjussow-Park, neun Uhr morgens. T.G.
Grin ertappte sich dabei, daß er lächeln mußte. Und der Gedanke, der ihm eben durch den Kopf gegangen war, verwunderte ihn noch mehr.
Es gab also doch einen lieben Gott. Er hieß T. G., paktierte mit den Revolutionären und hatte eine Schreibmaschine, Remington Nr. 5.
So etwas nannte man wohl einen Scherz.
Irgend etwas in ihm und um ihn herum hatte sich verändert. Ob zum Guten oder zum Schlechten, ließ sich noch nicht sagen.
DREIZEHNTES KAPITEL,
in welchem folgerichtig ein Unglück passiert
Als Erast Fandorin zu sich kam, sah er vor sich einen weißen Raum mit leuchtend gelber Kugel in der Mitte und begriff nicht gleich, daß es sich um eine Zimmerdecke und den gläsernen Schirm einer elektrischen Lampe handelte. Er drehte den Kopf ein wenig (der, wie er bei dieser Gelegenheit feststellte, auf einem Kopfkissen lag, und er, Fandorin, in einem Bett) und blickte in die Augen eines neben dem Bett sitzenden Herrn, der ihn gespannt ansah. Dieser Herr kam Fandorin irgendwie bekannt vor – woher, fiel ihm einstweilen nicht ein, zumal
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