Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
Vom Netzwerk:
Wie soll ich denn weiterleben ….«
    Es war kaum zu verstehen, was er sagte, denn von seinen Zähnen waren nur vereinzelte spitze Splitter übrig.
    »Erst haben sie mich verprügelt. Dann aufgehängt, kopfüber. Dann untergetaucht. Drüben, im Badezimmer …«
    Sein zitternder Finger wies Richtung Korridor.
    Grin sah das verkrustete Blut überall an Aronsons Hemd. Auch an den Händen, den Hosen.
    »Diese Leute sind wahnsinnig. Die wissen nicht, was sietun. Ich hätte alles ausgehalten: Gefängnis, Straflager, alles. Ehrlich. Aber …« Der Privatdozent faßte Grins Hand. »Nicht die Augen! Mein ganzes Leben, als Kind schon, hatte ich Angst, blind zu werden. Das können Sie sich nicht vorstellen …« Er zitterte am ganzen Leibe, verfiel wieder in sein Schaukeln und Greinen.
    Grin mußte ihn bei den Schultern nehmen und kräftig rütteln, worauf der Dozent zur Besinnung kam und zu lispeln fortfuhr.
    »Der Albino hat gesagt – da war es schon Morgen, und ich hatte gedacht, die Nacht nimmt nie ein Ende –, er hat gesagt: Ich frage dich noch zweimal. Nach dem ersten Mal brenne ich dir das linke Auge aus, nach dem zweiten das rechte. Mit Schwefelsäure. So wie eure Leute es mit Schwerubowitsch gemacht haben. Also. Wo ist Nadel? Ich habe geschwiegen. Und da haben sie …« Aronsons Brust entrang sich ein dumpfes Schluchzen. »Und dann hat er das zweite Mal gefragt, und ich hab ihm alles erzählt. Ich konnte nicht mehr! Als sie anrief, hätte ich sie noch warnen können, aber mir war schon alles egal …«
    Er nahm nun auch die zweite Hand zu Hilfe, sich bei Grin anzuklammern, und flehte närrisch, in übergeschnapptem Flüsterton: »Sie werden mich doch hoffentlich erschießen? Ich weiß, das wäre für Sie eine Kleinigkeit. Für mich ist es so oder so das Ende. Ich bin ein gebrochener Mann. Jetzt auch noch einäugig. Und nach alledem …« Sein Kinn zuckte in Richtung der Leichen. »Ich bin geliefert! Mir wird nicht verziehen, nicht von euch und nicht von denen …«
    Grin entwand sich dem Griff.
    »Wenn Sie sich erschießen wollen – bitte schön«, sagte er hart. »Nehmen Sie Seydlitz’ Revolver. Aber klug wäre dasnicht. Es geht nicht ums Verzeihen. Jeder hat seine Grenzen. Und der Sache dienen kann man genausogut mit einem Auge. Oder ganz ohne.«
    »Ich hätte bestimmt auch nicht durchgehalten«, sagte Nadel. »Bei mir hatten sie mit der Folter noch gar nicht richtig angefangen.«
    »Sie hätten durchgehalten«, widersprach Grin und wandte sich nach Stieglitz um. »Du bringst ihn ins Krankenhaus. Explosion im Privatlaboratorium«, instruierte er ihn. »Er ist Chemiker. Du lieferst ihn ab und verziehst dich wieder.«
    »Und was ist mit denen?« fragte Stieglitz, auf die Leichen deutend.
    »Das mache ich.«
     
    Als Grin mit Nadel allein war, versorgte er ihr Gesicht. Im Badezimmer (wo es übel aussah: überall Blut, Pfützen von Erbrochenem) hatte er ein Fläschchen Spiritus und Watte gefunden. Er wusch die Schrammen aus, tupfte die Blutergüsse ab.
    Den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen, saß Nadel da. Als Grin ihr mit den Fingern sachte die Lippen auseinanderschob, öffnete sie gehorsam den Mund. Vorsichtig rührte er an den Vorderzähnen, die sehr weiß und gerade waren. Der rechte Schneidezahn wackelte, aber nicht sehr. Er würde wieder einwachsen.
    Unterhalb des Schlüsselbeins entdeckte Grin noch einen Bluterguß. Er knöpfte das lädierte Kleid weiter auf, drückte sanft auf den Knochen, der von dünner, zarter Haut überspannt war. Er schien heil.
    Plötzlich schlug Nadel die Augen auf. Ihn traf ein verwirrter, gar ein wenig erschrockener Blick. Etwas schnürteGrin die Kehle zu, er vergaß, die Hand von ihrer entblößten Brust zu nehmen.
    »Sie haben da ein paar Kratzer«, sagte sie trocken.
    Unwillkürlich ging Grins Hand an seine zerschrammte Wange, ein Andenken an das Mißgeschick im Badehaus.
    »Ich bin ganz zerschunden«, sagte sie. »Muß ein schauderhafter Anblick sein. Als ob ich nicht schon häßlich genug wäre. Schauen Sie doch nicht so!«
    Grin blinzelte entschuldigend, doch er konnte nicht wegsehen. Von Häßlichkeit keine Spur, auch wenn der Bluterguß an ihrem Jochbein immer stärker hervortrat. Seltsam, daß dieses Gesicht ihm einmal leblos und vertrocknet erschienen war. Es war so voller Leben, voller Gefühl … Was Nadels Farbe anging, bemerkte er jetzt seinen Irrtum: Es war kein kaltes Grau, sondern ein warmes, mit einem Hauch von Perlmutt. Auch ihre Augen hatten diesen Perlenglanz

Weitere Kostenlose Bücher