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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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aufs neue fieberhaft im Schnee zu wühlen. Wenn er ihn doch fände, ach, wenn er ihn doch fände … Ein größeres Glück konnte Grin sich in diesem Moment nicht denken.
    Doch es war sinnlos. Vermutlich lag der Revolver am Grund der Grube, tief unterm Schnee.
    Und da, im Abwenden, sah Grin auf einmal hinter sich das schwarze Loch in der Grubenwand klaffen. Ohne zu überlegen, tat er einen Schritt darauf zu – und erkannte, daß da eine Art Tunnel war: schmal, doch knapp übermannshoch. Es roch nach gefrorener Erde.
    Zum Wundern blieb keine Zeit.
    Er lief hinein in die Finsternis, stieß sich die Schultern an den engen Wänden.
    Sehr bald, nach fünfzig Schritten vielleicht, flimmerte Licht am Ende des Tunnels. Grin lief schneller und fand sich plötzlich in einem offenen Graben wieder. Zur einen Seite von Brettern flankiert, zur anderen ragte eine Hausmauer auf, daran ein Ladenschild:
Möbius & Söhne, Kolonialwaren.
    Jetzt wußte Grin, wo er war. In der kleinen Straße, die zum Park führte, hatte er einen Graben gesehen, abgeschirmt von einem grob zusammengenagelten Bretterzaun.
    Er kletterte aus der Grube. Die Straße lag leer. Aus dem Park aber klang Stimmengewirr.
    Sich dicht an der Hauswand haltend, lugte er um die Ecke.
    Männer in Zivil waren dabei, mehrere leblose Körper zur Allee zu schleifen. Er sah zwei Agenten, die einen Polizistenan den Beinen hinter sich herzogen, begriff nicht sogleich, wer das war, denn der umgeschlagene Mantelsaum verdeckte das Gesicht des Toten. Dann aber rutschte ein dickes Buch aus dem Aufschlag, dessen Umschlag Grin kannte:
Der Graf von Monte Christo
. Jemelja hatte es mitgenommen, weil er fürchtete, womöglich nicht ins Quartier zurückkehren zu können – und also nicht zu erfahren, ob der Graf sich an den Verrätern gerächt hatte oder nicht.
    »Was da bloß los iss?« hörte Grin hinter sich eine verschreckte Stimme.
    Es war ein Hausknecht, Blechmarke mit Nummer an der Schürze, der aus dem nächstliegenden Eingang hervorschaute und, den starren Blick des überall mit Schnee beklebten Mannes gewahrend, ängstlich hinzufügte: »Ich tue nix und bin ganz friedlich, wie befohlen. Wen habt ihr denn da geschnappt? Kriminelle aus der Chitrowka? Oder die Bonbonwerfer?«
    »Bombenwerfer«, sagte Grin und entfernte sich im Eilschritt.
    Viel Zeit blieb ihm nicht mehr.
     
    »Wir hauen ab«, sagte er zu Nadel, als sie die Tür aufmachte. »Schnell.«
    Sie wurde bleich, stellte aber keine Fragen, lief sich die Schuhe anziehen.
    Grin steckte zwei Revolver ein, Patronen, das Glas mit dem Sprengstoff und ein paar Zünder. Die fertigen Hülsen mußte er zurücklassen.
    Erst als sie auf der Straße und unbehelligt um die nächste Ecke gebogen waren, wußten sie, daß das Quartier nicht belagert gewesen war. Offenbar hatte die Polizei sich daraufverlassen, daß die KG von selbst in die Falle tappen würde; auf eine Bespitzelung hatte man verzichtet, um nicht unnötig Aufsehen zu erregen.
    »Wohin?« fragte Grin. »Hotel geht nicht. Da wird gesucht.«
    »Zu mir«, sagte Nadel nach einem Moment des Zögerns. »Obwohl … Egal, du wirst schon sehen.«
    Sie wies den Kutscher an, in die Pretschistenka zu fahren, zum Hause des Grafen Dobrinski.
    Unterwegs berichtete Grin ihr halblaut, was sich im Brjussow-Park ereignet hatte. Nadel verzog keine Miene, doch eine Träne nach der anderen rollte die Wange hinab.
    Der Schlitten hielt vor einem altertümlichen schmiedeeisernen Tor mit Kronenschmuck. Dahinter lag ein Hof, noch dahinter ein großes dreistöckiges Palais, das einmal prunkvoll gewesen sein mußte, jetzt sichtlich vernachlässigt vor sich hin bröckelte.
    »Es ist unbewohnt, die Türen sind verbarrikadiert«, erklärte Nadel wie zur Rechtfertigung. »Als Vater starb, habe ich alle Diener entlassen. Er hat das Haus meinem Sohn vererbt, so es einen geben sollte. Wenn nicht, geht das Haus nach meinem Tod an den Georgsorden …«
    Es stimmte also, was man sich seinerzeit über die Braut des Zauberers erzählt hatte: daß sie eine Grafentochter war, registrierte Grin halb abwesend; sein Denken hatte sich schon davongestohlen, hin zum Eigentlichen.
    Nadel geleitete ihn vorbei an dem verriegelten Tor, den Zaun entlang zu einem kleinen Anbau mit Dachgeschoß, Eingang direkt von der Straße.
    »Hier hat früher der Hausarzt gewohnt«, sagte sie. »Jetzt wohne ich hier. Allein.«
    Grin hörte nicht mehr zu.
    Ohne um sich zu blicken, folgte er ihr durch irgendein Zimmer, nahm in irgendeinem Sessel

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