Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
Vom Netzwerk:
Platz.
    »Was sollen wir tun?« fragte Nadel.
    »Ich muß nachdenken«, erwiderte Grin beherrscht.
    »Darf ich mich zu dir setzen? Ich werde nicht stören …«
    Doch sie störte. Ihr weicher Perlmuttblick ließ nicht zu, daß er die Gedanken ordnete, sie schweiften ab auf Nebensächliches, Unangebrachtes.
    Grin riß sich zusammen. Nicht von der Linie abweichen. Konzentration auf das Wesentliche.
    Das Wesentliche war T. G. Ihm mußte Grin auf die Schliche kommen, er ganz allein.
    Und dabei hatte er nichts in der Hand.
    Er hatte nur sein gut trainiertes Gedächtnis.
    Auf dieses mußte er sich jetzt verlassen.
     
    Acht Botschaften waren von T. G. eingegangen.
    Die erste betraf den Gouverneur von Jekaterinograd, Bogdanow. Das war kurz nach dem ersten, mißglückten Anschlag auf Chrapow, am 23. September vorigen Jahres. Der Brief lag plötzlich auf dem Eßtisch des Geheimquartiers an der Fontanka, keiner wußte, woher er kam. Maschinegeschrieben, auf einer Underwood.
    Nummer zwei orientierte auf Gendarmeriegeneral Seliwanow. Fand sich in Grins Manteltasche an, auf der »Parteihochzeit« am 1. Dezember vorigen Jahres. Wieder auf der Underwood geschrieben.
    Nummer drei: Posharski und einen unbekannten »wichtigen Agenten« betreffend, der sich dann als Mitglied des Auslands-ZK (Stassow) entpuppte. Aufgelesen vom Fußbodenim Vorsaal eines Quartiers auf der Basilius-Insel am 15. Januar. Gleiche Schreibmaschine.
    Nummer vier: Chrapow. Auf der Datscha in Kolpino. Jemelja fand den Zettel, um einen Stein gewickelt, unter der offenen Fensterluke. 16. Februar. T. G. hatte wieder eine Underwood benutzt.
    Diese ersten vier Briefe erhielten sie in Petersburg. Insgesamt über einen Zeitraum von fast fünf Monaten.
    Seit sie in Moskau waren, überschlug sich T. G. geradezu: vier Briefe in vier Tagen.
    Nummer fünf informierte über Rachmets Verrat und Swertschinskis Nachtschicht auf dem Nikolaus-Bahnhof. Eingetroffen am Dienstag, dem 19. Wie zu jener »Hochzeit« gelangte er auf unerklärliche Weise in die Tasche von Grins Mantel, während dieser am Haken hing. Der Schreibmaschinentyp hatte gewechselt, diesmal war es eine Remington Nr. 5. Die Underwood war offenbar in Petersburg geblieben.
    Nummer sechs verriet die polizeiliche Einkesselung bei den Bahnhofsspeichern und bot ein neues Quartier an. Das war am Mittwoch, dem 20. Matwej brachte den Brief, den ihm jemand unbemerkt in die Jackentasche geschoben hatte. Auf einer Remington getippt.
    Nummer sieben: die Nachricht über das Badehaus Petrossow. Am 21. durch den Briefschlitz geworfen. Remington.
    Und schließlich Nummer acht – der Brief, der sie in die Falle gelockt hatte. Eingetroffen auf dieselbe Weise. Gestern, Freitag. Schreibmaschine: Remington.
    Was ließ sich aus alledem schlußfolgern?
    Wieso hatte T. G. die längste Zeit großartige Dienste geleistet und gestern Verrat begangen?
    Vermutlich aus demselben Grund wie andere: Er war verhaftetund gefoltert worden. Oder aber enttarnt und selbst genarrt. Der Unterschied war nicht so wichtig.
    Viel wichtiger: Wer war es?
    In vier von acht Fällen hatte sich T. G. oder ein Mittelsmann in Grins unmittelbare Nähe gewagt. In den übrigen wollte oder konnte er dies nicht und agierte aus der Distanz: durch das Fenster, durch die Tür, über Matwej als Boten.
    In Kolpino leuchtete das ein: Nach dem Überfall vom Januar hatte Grin seiner Gruppe Quarantäne verordnet. Sie hockten in der Datscha, gingen nirgends hin, hatten zu niemandem Kontakt.
    Hier in Moskau hatte T. G. sich nur ein einziges Mal direkten Zugang zu ihm verschafft: vor dem Überfall auf den Geldtransport am 19. Februar, während der Joker die Instruktion vornahm. Danach war ihm T. G. aus irgendeinem Grund nicht mehr nahe gekommen.
    Was hatte sich von Dienstag auf Mittwoch ereignet?
    Auf einmal durchzuckte es den in seinem Sessel grübelnden Grin. Des Rätsels Lösung verblüffte in ihrer arithmetischen Schlichtheit. Daß er nicht früher darauf gekommen war! Die letzte, kategorische Notwendigkeit hatte gefehlt, die das Denken so ungemein schärft.
    »Was hast du?« fragte Nadel erschrocken. »Ist dir nicht gut?«
    Wortlos griff er sich Papier und Bleistift vom Tisch. Dachte eine halbe Minute nach, schrieb dann schnell ein paar Zeilen. Zuletzt eine Adresse obenan.
    »Das muß aufgegeben werden. Blitztelegramm.«

FÜNFZEHNTES KAPITEL,
    in welchem Fandorin sich verbiegen lernt
    Grin war nicht der, den Fandorin sich ausgemalt hatte. Nichts Bösartiges, geschweige

Weitere Kostenlose Bücher