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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Boden reichten.
    »Esfir …«, flüsterte Fandorin kraftlos. »Mein Gott.«
    Der Fürst zog ein Messer aus der Tasche, schnitt den Strick entzwei, der Leichnam ging mit häßlichem Poltern zu Boden. Schlenkernde Arme, die tote Grazie einer Flickenpuppe. Aufprall der Stirn auf dem Parkett. Nun erst war der Körper wirklich reglos.
    »Tz-tz. So ein Mist.« Posharski ging in die Hocke. »Ein Jammer ist das. Solch ein seltenes Exemplar … Auch wenn sie für uns gerade ausgedient hatte. Ich dachte, ich hätte eine nette Überraschung für Sie. Zu spät. Nun können Sie diese Schönheit nur noch welken sehen.«
    Er griff die Tote bei den Schultern und drehte sie auf den Rücken.
    Instinktiv kniff Fandorin die Augen zu, schämte sich jedoch im nächsten Moment der eigenen Schwäche, zwang sich hinzusehen.
    Was er sah, ließ ihn die Augen von neuem zukneifen – diesmal vor Überraschung. Und wieder aufreißen. Augenklimpern, wie es sich für einen Detektiv nicht ziemt.
    Die Frau, die vor ihm auf dem Boden lag, sah Fandorin zum ersten Mal. Doch den Anblick vergaß man nicht wieder. Die eine Gesichtshälfte ganz normal, von einigem Liebreiz sogar – die andere hingegen gequetscht und mit vollkommen entgleisten Zügen: der Schnitt des Auges beinahe in der Senkrechten, Ohr und Wangenknochen aufeinanderstoßend.
    Posharski schien mit dem Effekt seiner Vorführung sehr zufrieden. Er lachte.
    »Nettes Frätzchen, wie? Ein Geburtstrauma. Die Hebamme hat ungeschickt mit der Zange hantiert. Verstehen Sie jetzt, warum sich Frau Diana so merkwürdig benahm? Wie anders hätte sie Beziehungen zu Männern pflegen können – die bei Tageslicht doch das helle Entsetzen packte? Sie mußsie gehaßt haben. Darum gefiel es ihr, in diesem verwunschenen kleinen Schloß zu hausen, in Finsternis und Stille. Hier und nur hier war sie nicht die unglückliche Mißgeburt, sondern eine makellose Venus, wie nur die männliche Phantasie sie zu entwerfen imstande ist … Brrr!« Posharski, schüttelte sich die gräßliche Maske anstarrend, und lamentierte: »Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht, aber bei dem Gedanken, daß ich gestern mittag mit einem solchen Monster intim war, bekomme ich Gänsehaut …«
    Fandorin stand da wie vor den Kopf geschlagen, kämpfte noch mit seiner Erschütterung – wußte jedoch schon, daß ihm alsbald, wenn er zu Gefühlen wieder fähig sein würde, ein Anfall heftigster Scham bevorstand.
    »Wobei man sich vorstellen könnte, daß in der Hölle, wohin die Arme fraglos unterwegs ist, eine wie Sie als Schönheitskönigin gilt«, bemerkte der Fürst tiefsinnig. »Unser Plan bleibt jedenfalls in Kraft, Fandorin. Der Schneehaufen rechts, denken Sie daran!«

VIERZEHNTES KAPITEL
    Die Grube
    Posharski verspätete sich.
    Es war sechs Minuten nach neun. Grin schob die Uhr zurück in die Manteltasche. Dort steckte der Colt. Die Finger schmiegten sich um den angenehm geriffelten Griff.
    So schlecht konnte es um die Sache der Revolution nicht stehen, wenn führende Kriminalpolizisten sich gezwungen sahen, ihre Treffen konspirativ und ohne Wissen ihrer eigenen Untergebenen abzuhalten. Das feindliche Lager war von Besorgnis und Unsicherheit erfaßt, man fürchtete sich vor dem eigenen Schatten, traute niemandem mehr. Und dies vollkommen zu Recht.
    Oder hatten sie bezüglich T. G. Verdacht geschöpft?
    Eine Sache, deren Verfechter immer zuerst an sich und ihr eigenes Wohl dachten, konnte nicht gelingen. So einfach war das. Darum mußte die Revolution unweigerlich triumphieren.
    Aber du wirst den Tag nicht mehr erleben! rüffelte Grin sich selbst, um das Lasurblau, das seit gestern hartnäckig hervorzukriechen suchte, wieder nach unten zu drängen. Du bist das Streichholz. Brennst ohnehin schon länger als gewöhnlich. Und die Lebenslust … hast du aus deiner Existenz selbst verbannt.
    Staatsrat Fandorin saß auf der Nachbarbank. Schlug sich gelangweilt den Handschuh auf das Knie, sah den Krähen zu, wie sie in den Ästen der alten Eiche umherhüpften.
    Gleich würde dieser schöne, etwas eitle junge Mann sein Leben aushauchen. Und man würde nie erfahren, was ihm in seinen letzten Minuten durch den Kopf gegangen war.
    Vorsicht! Unwillig zuckte Grin zusammen. Wer auf den Feind zielt, darf niemals daran denken, daß der andere eine Mutter und Kinder hat, ermahnte er sich zudem, was er Stieglitz immer von neuem sagen mußte. Wenn einer die feindliche Uniform trug, hieß das, er hatte den friedlichen Zivilisten hinter sich gelassen

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