Tote im Salonwagen
Schnee auf seinem Mantel an mehreren Stellen rot von Blut.
Jetzt war klar, wieso der arme Kerl so gezuckt hatte.
Verstört blickte Fandorin auf den leblosen Körper, der ihm als Schutzschild vor den Kugeln gedient hatte. Er bemerkte Posharski nicht, der von hinten auf ihn zugerannt kam.
»Sie sind am Leben! Na, Gott sei Dank!« rief er und packte Fandorin von hinten bei den Schultern. »Ich hatte es kaum zu hoffen gewagt! Aber nun sagen Sie mir um Himmels willen, was Sie in dem linken Haufen zu suchen hatten! Ich habe Ihnen doch hundert Mal eingeschärft: In den rechten müssen Sie springen, in den rechten! Ist doch wirklich ein Wunder, daß es Sie nicht erwischt hat!«
»Ja, was denn, das
ist
doch der rechte!« rief der Staatsrat aufgebracht. Seine hilflosen Hüpfer im Liegen fielen ihm wieder ein. »Und ich b-b-… bin reingesprungen!«
Entgeistert blickte der Fürst ihn an. Erst ihn, dann die Bank und den Haufen, dann wieder ihn. Schließlich begann er zaghaft zu kichern.
»Naja. Wie man’s nimmt … Ich hab eben nicht auf der Bank gesessen, sondern vor ihr gestanden. Und da war der Haufen rechts von der Bank. Wenn man drauf sitzt, ist er natürlich links … O nein, das hält man nicht aus! Zwei weise Männer … Zwei Bilderbuchstrategen …«
Worauf der Vizedirektor der politischen Polizei einen hysterischen Lachkrampf bekam, der ihn in die Knie zwang – und wohl zumindest teilweise davon herrührte, daß die Nervenanspannung nachließ.
Fandorin lächelte, Posharskis Fröhlichkeit steckte an. Doch dann blieb sein Blick erneut an der schmächtigen Gestalt im Gymnasiastenmantel hängen, und er wurde gleich wieder ernst.
»Wo ist G-g-… Grin?« fragte er. »Er hat dort gesessen. Als General a. D. verkleidet.«
»Er ist nicht dabei, Euer Hochgeboren«, sagte der Schnauzbärtige stirnrunzelnd, nach den auf der Allee liegenden Körpern umgewandt. »Eins, zwei, drei, vier, fünf. Mit dem Gymnasiasten hier sechs. Verdammt, wo ist der siebte? Es waren sieben!«
Der Fürst hatte zu lachen aufgehört. Betreten blickte er in die Runde, biß die Zähne zusammen, stöhnte.
»Er ist abgehauen! Ausgerechnet durch diesen Graben … Ein schöner Sieg! Und ich hatte im Kopf schon die Meldung verfaßt: keine Verluste, Kampfgruppe komplett vernichtet …«
Er faßte nach Fandorins Arm, preßte ihn.
»Das ist arg, Herr Kollege, das ist wirklich arg. Wir halten den Schwanz der Eidechse in Händen, und die Eidechse selbst ist uns wieder entwischt. Und läßt sich einen neuen Schwanz wachsen, das ist sie ja gewöhnt.«
»Was t-tun wir?« fragte der Staatsrat. Seine blauen Augen blickten bestürzt in die des Fürsten, die schwarz, aber ebenso bestürzt waren.
»Sie tun erst mal gar nichts«, erwiderte Posharski matt. Er hatte überhaupt nichts Auftrumpfendes mehr an sich, schien niedergeschlagen und sehr müde. »Sie gehen am besten in die Kirche und stiften eine Kerze, denn heute morgen ist der Herrgott erschienen und hat ein Wunder an Ihnen vollbracht. Und anschließend gehen Sie schlafen. Ich kann schon keinenvernünftigen Gedanken fassen, und Sie erst recht nicht. Wir können einstweilen bloß darauf hoffen, daß unsere Spitzel und Agenten ihn irgendwo schnappen. In das Quartier wird er nicht zurückkehren, er ist ja nicht blöd. Jeder in der Stadt, der sich auch nur ansatzweise als Roter zu erkennen gegeben hat, wird überwacht. Genauso sämtliche Hotels. Ich lege mich auch erst mal aufs Ohr. Wenn etwas ist, wird man mich wecken, und ich gebe Ihnen Bescheid. Aber sehr wahrscheinlich ist das nicht.« Er winkte ab. »Morgen früh basteln wir neue Fallstricke. Für heute … Je passe 1 .«
Eine Kerze ging Fandorin nicht aufstellen – purer Aberglaube. Und zum Schlafen sah er sich nicht berechtigt. Die Pflicht verlangte von ihm, beim Generalgouverneur vorzusprechen (wo er sich, diverser schwer zu beeinflussender Umstände wegen, schon vier Tage nicht hatte sehen lassen), um über den Stand der Ermittlungen Bericht zu geben.
So wie er aussah, naß vom Schnee, mit zerrissenem Kragen und geknittertem Zylinder in der Residenz zu erscheinen war allerdings ganz ausgeschlossen; er mußte also erst noch zu Hause vorbeifahren, brauchte dafür aber nicht länger als eine halbe Stunde. Um Viertel nach elf betrat Fandorin in frischem Rock und makellos weißem Hemd mit Derby-Krawatte das Vorzimmer Seiner Erlaucht.
Bis auf den fürstlichen Sekretär war niemand in dem großen Raum, weshalb der Staatsrat den Gepflogenheiten
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