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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Jahren einmal aufgebrochen war, um einen edlen Beruf zu lernen.
    Grins Naturell war so beschaffen, daß er auf die böse, dumpfe Ungerechtigkeit zunächst mit tiefer Verwunderung reagierte, die sich erst allmählich zu heftiger physischer Qual auswuchs, dann umschlug in hellen Zorn, um am Ende in einen unstillbaren Drang zur Gegenwehr zu münden.
    Und derlei böse, dumpfe Ungerechtigkeiten gab es viele ringsumher. Sie hatten dem jungen Mann schon früher zugesetzt, doch bis zu einem bestimmten Moment hatte er sich einbilden können, anderes sei wichtiger: die Hoffnungen des Vaters nicht zu enttäuschen, ein nützliches Handwerk zu lernen, in sich selber das zu entdecken und zu begreifen, um dessentwillen der Mensch auf der Welt ist. Nun aber hatte ihn diese dumpfe Bosheit angefallen, war auf ihn zugerast wie eine schnaufende, rauchspuckende Lokomotive, hatte ihn einfach die Böschung hinabgeworfen, und er war nicht länger imstande, sich der Stimme seiner Natur zu widersetzen, die von ihm zu handeln verlangte.
    Jenes ganze Jahr war Grin sich selbst überlassen. Alle dachten, er bereite sich darauf vor, die anstehenden Gymnasialprüfungen extern abzulegen. Er las auch tatsächlich eine Menge Bücher: Gibbon, Locke, Mill, Guizot. Er wollte begreifen, warum die Menschen einander quälen, wo die Ungerechtigkeit ihre Wurzeln hat und wie man sie am besten ausmerzt. Eine direkte Antwort fand sich in den Büchern zwar nicht, doch man konnte sie, wenn man ausreichend darüber nachdachte, zwischen den Zeilen lesen.
    Eine Gesellschaft bedarf, um nicht zu verjauchen und unter einer dicken Schicht Entengrütze zu ersticken, der periodischen Aufmischung. Mit einem anderen Wort: der Revolution. Fortschrittlich sind solche Nationen zu nennen, die diese schmerzhafte, doch notwendige Operation beizeiten hinter sich gebracht haben – je früher, desto besser. Eine Klasse, die sich zu lange oben eingenistet hat, stirbt ab wie Hornhaut, die Poren eines Landes verstopfen davon, und in der Gesellschaft wächst die Atemnot, die Sinnlosigkeit und Willkür nach sich zieht. Der Staat wird baufällig wie ein langenicht saniertes Haus, und ist der Verfall zu weit gediehen, hat es keinen Zweck mehr, das morsche Gebäude zu stützen und zu flicken. Man muß es niederbrennen und auf der Brandstelle ein neues Haus bauen, licht und stabil.
    Doch Brände entstehen nicht von selbst. Es braucht Leute, die bereit sind, die Rolle des Zündholzes zu übernehmen: selbst abzubrennen, um den großen Brand zu entfachen. Allein der Gedanke an ein solches Schicksal ließ einem den Atem stocken. Grin war einverstanden damit, Zündholz zu sein und abzubrennen, doch er wußte, daß es mit dem bloßen Einverständnis nicht getan war.
    Vonnöten waren ein eiserner Wille, die Kräfte eines Herkules und eine Reinheit, die ohne Makel war.
    Den Willen hatte er, der war ihm in die Wiege gelegt, er mußte ihn bloß entwickeln. Und er entwarf ein ganzes Programm zur Überwindung eigener Schwächen, die er zu seinen Hauptfeinden erkor. Zum Beispiel Höhenangst: Stundenlang spazierte er des Nachts über die Geländer einer Eisenbahnbrücke und zwang sich, den Blick nicht von den schwarzen, öligen Fluten in der Tiefe zu wenden. Ekelanfälle: Er fing im Wald verschiedene Ottern und starrte ihnen so lange in den abscheulichen, zischenden Rachen, bis sich das fleckige Reptil vor Wut um seinen nackten Arm geschlungen hatte. Schüchternheit: Er fuhr in die Kreisstadt auf den Jahrmarkt und sang dort Lieder zur Harmonika, während die Zuhörer sich kugelten vor Lachen, weil dieses finster dreinblickende dumme Jüdlein weder die Stimme noch das Gehör zum Sänger hatte.
    Mit den Herkuleskräften war es schon schwieriger. Zwar erfreute sich Grin von Natur aus einer robusten Gesundheit, doch er war ungelenk und sein Knochenbau schmal. Über Wochen und Monate verwandte er zehn, zwölf, vierzehnStunden pro Tag darauf, seine Muskelkräfte zu mehren. Dabei ging er nach einer eigenen Methode vor, die notwendige Muskeln von nicht notwendigen unterschied. Für letztere verschwendete er keine Zeit. Er begann mit dem Training der einzelnen Finger und hörte nicht eher auf, bis er Kupferfünfer, sogar die alten Silberdreier mühelos zwischen Daumen und Zeigefinger zu biegen vermochte. Sodann ging er zu den Fäusten über: hieb sie gegen ein zolldickes Brett, schlug sich die Knöchel blutig, rieb die Schrammen mit Jod ein und hieb weiter, bis die Fäuste mit Schwielen überzogen waren und das

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