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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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sich all dessen entwöhnt, was er für »Luxus« hielt, worunter neben schlechten Gewohnheiten auch solche fielen, die man nicht zwingend zum Überleben brauchte.
    Aus dem Nachbarzimmer drangen gedämpfte Stimmen – die Mitglieder der Kampfgruppe diskutierten erregt die Einzelheiten der erfolgreich zum Abschluß gebrachten Aktion. Manchmal hob Stieglitz im Überschwang die Stimme und wurde von den beiden anderen sogleich niedergezischt. Sie glaubten, Grin schliefe. Doch er schlief nicht. Er ruhte. Zählte den Pulsschlag seines Herzens und dachte daran, wie der Alte sich im Angesicht des Todes in sein Handgelenk verkrallt hatte. Seine Haut hatte den Griff der trockenen, heißen Finger noch nicht vergessen. Das schmälerte die Genugtuung über die sauber und präzise ausgeführte Aktion, die erfüllte Pflicht – und andere Wohlgefühle leistete der grauäugige Mann sich ohnehin nicht.
    Grin wußte, daß sein Spitzname wie englisch: »grün« klang, aber das war nicht die Farbe, die er als die seine empfand. Daß alles auf Erden einen eigenen Farbton besitzt, jedes Ding, jeder Begriff, jeder Mensch – das hatte Grin schon als Kind gespürt, darin war er besonders. Das Wort Semlja (Erde) zum Beispiel war lehmgelb, das Wort Jabloko (Apfel) zartrosa, selbst wenn es sich auf einen gelben Winterapfel bezog, das Wort für Imperium war weinrot, für Mutter himbeerrot, Vater ein sattes Violett. Sogar die einzelnen Buchstaben imAlphabet hatten ihre Farben: das A war purpurn, das B zitronengelb, das W gleichfalls gelb, doch fahler. Grin hatte nie dahinterzukommen versucht, warum ein Ding, eine Erscheinung, ein Mensch in Gehalt und Stimmung just so und nicht anders gefärbt waren, er nahm dieses Wissen als gegeben hin, und es trügte ihn selten – bei Menschen am allerwenigsten. Dazu mußte man wissen, daß auf Grins angeborener Farbskala jede Farbe auch noch ihre verborgene Bedeutung hatte. Blau verhieß Zweifel und Unsicherheit, Weiß Frohsinn, Rot Bekümmernis, wodurch die russische Flagge eine seltsame Melange ergab: froh und traurig in einem, und beides gleichermaßen zweifelhaft. Tauchte ein neues Gesicht auf und schimmerte blau, dann ließ Grin zwar nicht gleich sein Mißtrauen erkennen, begegnete ihm jedoch mit besonderer Vorsicht. Und da war noch etwas: Menschen waren die einzigen, die ihre Farbe mit der Zeit wechseln konnten – durch eigenes Zutun, durch veränderte Umgebung oder einfach, indem sie älter wurden.
    Grin selbst war früher einmal lasurblau gewesen – weich, warm und formlos. Dann hatte er sich zu ändern beschlossen, der lichte Azurton schwand, ward allmählich verdrängt durch ein strenges, klares Aschgrau. Auch dessen blaue Anteile zogen sich später zurück, vermochten allenfalls noch einen Schimmer zu erzeugen, Grin wurde hellgrau. Es war die Farbe von Damaszener Stahl – hart, federnd, kalt und nichtrostend.
     
    Die Verwandlung hatte mit sechzehn begonnen. Zuvor war er ein Gymnasiast wie jeder andere gewesen, hatte Nekrassow und Lermontow deklamiert, Landschaften aquarelliert und sich öfters verliebt. Das heißt, natürlich hatte er sich schon damals von seinen Mitschülern unterschieden – und sei esnur dadurch, daß die anderen Russen waren und er nicht. In der Klasse wurde er deswegen nicht gehänselt, nicht als »Jidd« beschimpft, denn schon damals ließ sich ihm, dem später einmal stählernen Mann, die Konzentration, die stille, uneitle Kraft anmerken – Freunde aber hatte er naturgemäß keine. Andere Gymnasiasten schwänzten die Schule, zettelten provokante Diskussionen an, spickten, was das Zeug hielt, während Grin nichts weiter übrig blieb, als lauter Einsen auf dem Zeugnis zu haben und sich auf mustergültige Weise zu benehmen, sonst wäre er umgehend von der Schule geflogen, und das hätte der Vater nicht ertragen.
    Vermutlich hätte Grin das Gymnasium vortrefflich zum Abschluß gebracht, und aus dem lasurblauen Jungen wäre erst ein Universitätsstudent und später ein Arzt oder, wer weiß, ein Künstler geworden – doch da war es Generalgouverneur Tschirkow auf einmal so vorgekommen, als gäbe es in der Stadt einen Überschuß an Juden, so daß er Apotheker, Dentisten und Kaufleute, die außerhalb der jüdischen Siedlungsrayons 1 keine Aufenthaltserlaubnis hatten, per Dekret in die Schtetl zurückbeorderte. Und weil der Vater einer von diesen Apothekern war, fand sich die Familie unversehens in der kleinen südrussischen Stadt wieder, aus der Grinberg senior vor vielen

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