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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Brett beim ersten Hieb entzweibrach. Als die Schultern an der Reihe waren, verdingte er sich bei einem Müller und schleppte vier Pud 2 schwere Mehlsäcke. Bauch und Kreuz ertüchtigte er mit französischer Gymnastik, die Beine mittels eines Fahrrads, wobei er ausschließlich bergauf fuhr – bergab trug er das Rad auf dem Rücken.
    Sittliche Reinheit zu erlangen fiel ihm indes am allerschwersten. Völlerei und Weichlichkeit hatte er sich schnell abgewöhnt, mochte die Mutter auch Tränen vergießen, wenn er sich durch langes Fasten stählte oder wieder einmal in regnerischer Oktobernacht zum Schlafen hinaus auf das Blechdach ging. Das Physiologische abzuschütteln wollte ihm hingegen nicht gelingen. Hier halfen Hungerkuren ebensowenig wie einhundert Klimmzüge am englischen Reck. Einmal beschloß er den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben und sich einen Widerwillen gegen den Geschlechtstrieb einzuhandeln, indem er in die Kreisstadt fuhr und sich die greulichste aller Bahnhofsdirnen mitnahm. Doch das Mittel wirkte nicht, alles wurde nur noch ärger davon. Er mußte sich also auf seine Willenskraft verlassen.
    Ein Jahr und vier Monate brauchte Grin, um aus sich ein Zündholz zu schnitzen. Welches die Schachtel war, an der er sich zuletzt reiben wollte, um zu verbrennen, hatte er noch nicht entschieden, doch daß es unblutig nicht abgehen würde, wußte er schon, und auch darauf bereitete er sich gründlich vor. Zum Beispiel lernte er sicher zu schießen. Oder blitzartig das Messer aus dem Gürtel zu ziehen und zu werfen. Auf zwölf Schritt traf er eine Melone von geringer Größe. Schließlich brütete er über chemischen Lehrbüchern und fabrizierte einen Sprengstoff nach eigener Rezeptur.
    Mit fieberndem Interesse verfolgte er die einzigartige Hatz, die die Leute von der Partei »Narodnaja wolja« 3 auf den Zaren persönlich abhielten. Doch der Zar ließ sich partout nicht erwischen, ihn schützte eine geheimnisvolle Macht, die ein um das andere Mal die wundersame Rettung sandte.
    Grin wartete ab. Er begann zu ahnen, was das für eine Macht war, wagte jedoch vorerst nicht, an dieses unerhörte Glück zu glauben. Konnte es sein, daß die Geschichte ihm, Grigori Grinberg, diese Rolle zugeschrieben hatte? Dabei war er doch noch ein halbes Kind, einer von Hunderten, vielleicht Tausenden junger Recken, die wie er von einem kurzen Leben als Zündholz träumten.
    Es war eines schönen Tages im März (auf dem seit langem stillstehenden Fluß das erste Krachen und Schieben vor dem beginnenden Eisgang), als das Warten ein Ende fand.
    Grin hatte sich geirrt. Nicht ihn hatte die Geschichte erwählt, sondern einen anderen Jungen, wenige Jahre älter als er. Der warf die Bombe, die dem Imperator die Beine zerschmetterte und ihm selber die Brust aufriß. Kurz vor dem Tod einen Moment bei Bewußtsein, wurde er nach seinemNamen gefragt, antwortete: »Ich weiß nicht!« und trat ab, überschüttet von den Verwünschungen seiner Zeitgenossen, doch der Nachfahren ewiger Dankbarkeit gewiß.
    Das Schicksal hatte Grin getäuscht, an der Nase herumgeführt – aber es gab ihn nicht auf, entließ ihn nicht aus seinen eisernen Klauen, trug ihn, der fassungslos war und stumm vor Enttäuschung, fort, im weiten Bogen, dem Ziel entgegen.
     
    Der Pogrom begann, als der Sohn des Apothekers gerade nicht im Schtetl war. Von unbändiger, eifersüchtiger Neugier gepackt, war er für zwei Tage nach Kiew gefahren, um die Einzelheiten über den Zarenmord zu erfahren – die Zeitungen schrieben wirres Zeug, gefielen sich in Untertänigkeitsbekundungen.
    Am Sonntagmorgen läutete in der Siedlung jenseits des Flusses, wo die Gojim wohnten, die Sturmglocke. Der Schankwirt Mitri Kusmitsch, von der Gemeinde nach Belozerkowsk entsandt, war mit der Nachricht zurückgekehrt, das Gerücht sei wohl wahr: Den Zaren hätten die Juden ermordet. Man durfte also jetzt auf die Abrahams einschlagen, ohne belangt zu werden.
    Sie kamen als Meute über die Eisenbahnbrücke gezogen, die die zwei Hälften der kleinen Stadt, die christliche und die jüdische, miteinander verband. Gemessenen Schrittes, mit Kirchenfahne und Gesang. Den Repräsentanten, die ihnen entgegentraten – dem Rabbi, dem Direktor der jüdischen Schule, dem Marktvorsteher – taten sie nichts, schenkten ihnen aber auch kein Gehör. Die drei wurden einfach zur Seite geschoben, worauf der Haufe in die stillen Gäßchen einzog, deren Fenster ihnen blind, mit geschlossenen Läden entgegenglotzten. Die

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