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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Männer warteten auf den passenden Moment, sie warteten lange, es fehlte der Anstoß, der den Stein ins Rollen brachte.
    Ihn lieferte besagter Schankwirt – indem er kurzerhand die Tür des Kneipchens einschlug, das voriges Jahr aufgemacht hatte und ihm das ganze Geschäft verdarb. Von dem Krachen und Splittern lebte das Volk auf, es kam in Stimmung.
    So ging das Ganze seinen Gang: Man zündete die Synagoge an, streifte durch die Hütten, quetschte hier einem den Brustkorb, zerrte da einen an den Schläfenlocken, und gegen Abend, nachdem im Keller der Wirtschaft die versteckten Weinfässer entdeckt worden waren, vergriff sich der eine oder andere Bursche an einer jiddischen Maid.
    Noch vor Einbruch der Dunkelheit kehrte man heim, Bündel mit allerlei Nützlichem und die Besoffenen huckepack. Bevor man auseinanderging, wurde einhellig beschlossen, den nächsten Tag nicht zu arbeiten, denn zu arbeiten sei Sünde für ein Volk, dem solches Leid widerfahren – statt dessen wollte man noch ein zweites Mal hinüber über den Fluß.
    Am Abend kam Grin nach Hause und erkannte das Schtetl nicht wieder. Aus den Angeln geschlagene Türen, fliegende Bettfedern, Brandgeruch, aus den Fenstern drang Frauenklagen und Kindergeschrei.
    Seine Eltern, unversehrt, hockten im gemauerten Keller, doch oben sah es übel aus. Die Berserker hatten mehr zerschlagen als mitgenommen, am ärgsten hatte es die Bücher erwischt: Der Eifer mußte groß gewesen sein, aus jedem einzelnen der fünfhundert Bände waren Seiten herausgefetzt.
    Wie blaß der Vater war, wie ihm die Lippen bebten – der Anblick war nicht zu ertragen. Die Apotheke hatten sie schon am Vormittag in Trümmer gelegt, man wußte von dem Spiritus. Aber das war nicht das Schlimmste. Belkin, dem alten Zaddik, hatten sie den Schädel eingeschlagen, er war tot. Und der Schusterin Gesja war, weil sie ihre Tochter nichthergeben wollte, mit der Axt das halbe Gesicht weggehackt worden. Morgen würde die Meute wiederkommen. Die Leute hatten Geld gesammelt, neunhundertfünfzig Rubel, und zum Kreispolizeichef getragen. Der habe das Geld genommen und gesagt, er würde losfahren, ein Kommando Soldaten holen, losgefahren sei er tatsächlich, doch bis zum Morgen sei mit ihm gewiß nicht zu rechnen, man müsse sich gedulden.
    Grin hörte zu, bleich, seine Enttäuschung war grenzenlos. Sollte es das sein, wozu das Schicksal ihn ausersehen hatte? Nicht den gleißenden Blitz unter die Räder der goldenen Kutsche sollte er schleudern, auf daß der Donner in der ganzen Welt zu hören wäre? Sondern einen sinnlosen Tod sterben unter den Knüppeln des besoffenen Packs? In der tiefsten Provinz, kleinen Leutchen zuliebe, die ihn nicht interessierten und mit denen er nichts gemein hatte? Er verstand ja nicht einmal richtig ihre kuriose Sprache – zu Hause hatten sie immer nur russisch gesprochen. Ihre Bräuche kamen ihm komisch und sonderbar vor, und auch er war für sie ein Fremder, ein törichter Judensohn, der nicht auf Judenart leben wollte (»und was dabei herauskommt, weiß man ja …«)
    Doch die Dumpfheit und Bosheit der Welt hatte ihn zum Gegenschlag herausgefordert, und Grin wußte, er hatte keine Wahl.
     
    Am nächsten Morgen läutete in der Siedlung wieder die Glocke, und vom Dorfplatz setzte sich ein Pulk Richtung Brücke in Bewegung, mehr Menschen als tags zuvor. Gesungen wurde heute nicht. Nach dem Wein aus dem Keller und dem Spiritus aus der Apotheke waren die Leute verkatert, doch zu allem entschlossen. Viele hatten Wagen und Schubkarren dabei. Mit der Ikone voran ging Mitri Kusmitsch, derWortführer: im roten Hemd, der Kosakenrock neu und aus gutem Tuch.
    Kurz vor der Brücke streckte sich der Haufe zu einem grauen Band. Die porösen Schollen, die auf dem Fluß trieben, schienen ebenso grau, massig, unaufhaltsam.
    Am anderen Ende der Brücke zwischen den Gleisen stand, den Mantelkragen hochgeschlagen, Hände in den Taschen, ein großgewachsener Jud. Der scharfe Wind zauste die schwarzen Haare auf dem unbedeckten Kopf.
    Als die Vordersten schon nahe heran waren, zog der Mann wortlos die rechte Hand aus der Tasche. In ihr steckte ein schwerer schwarzer Revolver.
    Die Vordersten wollten stehenbleiben, die Nachfolgenden aber, die den Revolver nicht sehen konnten, strebten weiter, die Bewegung der Menge war nicht zu bremsen.
    Da schoß der schwarze Mann einmal über die Köpfe der Entgegenkommenden hinweg. Der Schuß hallte in der frostigen Morgenluft, das Echo ging ein paar Mal über den

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