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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Fluß hin und her: Krrach! Krrach! Krrach!
    Die Menge kam zum Stehen.
    Der Schwarze sagte immer noch nichts. Sein Gesicht war ernst und maskenhaft, die Revolvermündung senkte sich, blickte nun den zuvorderst Stehenden direkt in die Augen.
    Da drängte, ungestüm mit den Ellbogen arbeitend, der Zimmermann Jegor durch die Menge nach vorn, ein Draufgänger und Luftikus. Gestern hatte er den ganzen Tag besoffen irgendwo herumgelegen, die Judenjagd war ihm entgangen, heute konnte er es nicht erwarten, das Versäumte nachzuholen.
    »Schieß doch! Na schieß doch!« sagte Jegor lachend und krempelte die Ärmel seines zerschlissenen Rocks auf. »Hat sich was! Der und schießen! Das wird der grad wagen!«
    Jegors Worte waren kaum gesprochen, da antwortete der Revolver mit Donner und Rauch.
    Der Zimmermann faßte sich an die durchschossene Schulter und ging ächzend in die Knie, während es aus der schwarzen Mündung in gleichmäßigen Abständen vier weitere Male krachte.
    Mehr Kugeln waren nicht in der Trommel, also holte Grin die selbstgebaute Bombe aus der linken Manteltasche. Doch sie zu werfen bestand kein Anlaß – das Wunder war schon geschehen. Mitri Kusmitsch, am Knie getroffen, fing so gräßlich zu jaulen an – »Au, au, er hat mich getroffen, er hat mich getroffen, ihr Rechtgläubigen!« –, daß ein Zucken durch die Menge ging, sie wich zurück. Kurz darauf flohen die Männer, einander umrennend, über die Brücke zurück in ihre Siedlung.
    Grin sah den Fliehenden nach und spürte zum ersten Mal deutlich, daß das Lasurblau in ihm zur Neige ging, das Stahlgrau nunmehr den Ton angab.
    In der Abenddämmerung traf der Kreispolizeichef mit einem Zug berittener Polizisten ein und sah, daß im Städtchen alles ruhig war. Er wunderte sich. Nachdem er kurz mit den Juden gesprochen hatte, zog er wieder ab, den Apothekersohn nahm er mit, ins Gefängnis.
    Grigori Grinberg wurde zu Grin, als er zwanzig war und wieder einmal auf der Flucht. Nach anderthalbtausend Werst zu Fuß, schon kurz vor Tobolsk, ging er dummerweise einer Polizeistreife ins Netz, die Landstreicher aufgriff. Sie wollten seinen Namen wissen, also nannte er einen – und dachte dabei nicht an seinen eigenen, sondern an Ignati Grinewizki, den Zarenmörder.
     
    Bei Schlag eintausendachthundert hatte er das Gefühl, daß seine Kräfte wiederhergestellt waren; er erhob sich leicht und ohne daß die Hände den Boden berührten. An Zeit war kein Mangel. Es war erst Abend, die Nacht lag noch vor ihnen.
    Wie lange sie noch in Moskau verweilen mußten, war ungewiß. Zwei Wochen wohl, kaum weniger. Bis die Spitzel aus den Zügen und von den Bahnhöfen abgezogen waren. Grin selbst störte das nicht, er war geduldig. Acht Monate Einsamkeit waren eine gute Schule gewesen. Doch den anderen in der Gruppe, so jung und heißblütig, wie sie waren, würde das Warten schwerfallen.
    Er ging aus dem Schlafzimmer hinüber in den Salon, wo die drei saßen.
    »Wieso schläfst du denn nicht?« fragte Stieglitz, der Jüngste, erschrocken. »Etwa meinetwegen? Hab ich zu laut gequasselt?«
    In der Gruppe galt das Du, unabhängig vom Alter und von revolutionären Verdiensten. Sollte man Sie zueinander sagen, wenn man schon morgen oder in einer Woche oder einem Monat gemeinsam in den Tod gehen würde? Es gab auf der ganzen Welt sonst keinen, mit dem Grin sich duzte, nur diese drei: Stieglitz, Jemelja und Rachmet. Es hatte andere gegeben, doch sie waren alle tot.
    Stieglitz sah frisch und munter aus, was nicht verwunderlich war – an Aktionen durfte der Junge noch nicht teilnehmen, so viel er auch bettelte und sogar heulte vor Wut. Die anderen beiden wirkten trotz der Ausgelassenheit ziemlich müde, und auch dies war normal.
    Die Operation war glatter verlaufen als gedacht. Geholfen hatten der Schneesturm und insbesondere die Verwehung der Gleise vor Klin – ein wahres Geschenk des Himmels. Rachmetund Jemelja hatten mit dem Schlitten in drei Werst Entfernung vom Bahnhof gewartet. Dem Plan nach hätte Grin aus dem Fenster des fahrenden Zuges springen müssen und sich vielleicht die Knochen geprellt. Dann hätten sie ihn aufgelesen. Oder die Wache hätte den Abspringenden bemerkt und das Feuer auf ihn eröffnet. Auch in diesem Fall wäre der Schlitten von Nutzen gewesen.
    Doch es ging besser aus. Grin kam einfach die Gleise entlanggerannt, heil und unversehrt. Er fror nicht einmal – die drei Werst hatten gereicht, sich warm zu laufen.
    Sie umfuhren im Bogen das Schwemmland des

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