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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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und? Wenn’s für die Sache ist, tut man’s eben«, verkündete Stieglitz entschieden. Er war blaß geworden, nun lief er, ohne jeden Übergang, rot an. Diese flammende Gesichtsröte hatte ihm seinen Spitznamen eingebracht. »Der Schuft hat doch die eigenen Leute reingelegt!«
    Grin kannte Stieglitz seit langem – viel länger als die beiden anderen. Es war ein ganz besonderer Junge, von edlem Blut: Sohn eines gehängten Zarenmörders und einer Aktivistin von »Narodnaja Wolja«, die sich in den Kasematten zu Tode hungerte. Die beiden waren nicht verheiratet gewesen. Das Kind, ungetauft, wurde durch die Genossen der Eltern aufgezogen. Der erste freie Mensch des künftigen freien Rußlands! Kein Unrat im Kopf, keine Trübung der Seele. Dereinst würden solche Jungen die Regel sein, doch vorerst gab es nur diesen einen, kostbares Produkt einer mühevollen Evolution, und darum hatte Grin sich so schwergetan, Stieglitz in die Gruppe aufzunehmen.
    Andererseits: Wie hätte er ihn nicht aufnehmen können? Vor drei Jahren, als Grin der Strafkolonie entkommen war und auf gehörigem Umwege – rings um den Erdball, über China, Japan, Amerika – nach Hause zurückkehrte, mußte er einen Zwischenhalt in der Schweiz einlegen. Untätig herumsitzend,wartete er auf eine Stafette, die er übernehmen sollte. Kurz vor ihm war Stieglitz hier eingetroffen, man hatte ihn aus Rußland herübergeschickt, nachdem seine letzten Zieheltern verhaftet worden waren. In Zürich gab es keinen, der sich mit dem Jungen abzugeben wünschte. Man fragte Grin, und er willigte ein, weil er nicht wußte, wie er der Partei zu diesem Zeitpunkt anders hätte nützlich sein können. Die Stafette ließ weiter auf sich warten, zerschlug sich dann ganz. Bis eine neue eingefädelt war, verging ein ganzes Jahr.
    Seltsamerweise war der Junge Grin kein Klotz am Bein, im Gegenteil. Vielleicht hatte es damit zu tun, daß er sich zur Abwechslung einmal nicht um die Menschheit im Ganzen zu kümmern hatte, sondern um einen einzelnen Menschen. Der noch gar kein ganzer war, erst noch einer werden wollte.
    Einmal, nach einer langen, ernsthaften Unterredung, gab Grin seinem Zögling ein Versprechen: Wenn Stieglitz erst groß genug wäre, würde er ihn bei sich mitarbeiten lassen, ganz gleich, womit er gerade befaßt sein würde. An eine Kampfgruppe war damals noch nicht zu denken gewesen, sonst hätte er derlei bestimmt nicht versprochen.
    Dann kehrte er in die Heimat zurück, ging wieder an die Arbeit. An den Jungen mußte er des öfteren denken, das Versprechen allerdings hatte er schnell vergessen. Bis Stieglitz eines Tages – es war vor zwei Monaten in Paris – mit den Genossen bei einem konspirativen Treff aufkreuzte: Hier, Genosse Grin, haben Sie einen jungen Mann aus der Emigration zur Verstärkung, machen Sie sich bekannt. Stieglitz strahlte, seine Augen himmelten Grin an, und natürlich hatte er nichts Eiligeres zu tun, als ihn an sein Versprechen zu erinnern. Da ließ sich nichts machen – sein eigenes Wort zu widerrufen brachte Grin nicht fertig.
    Einstweilen schonte er den Jungen noch, zog ihn zu keiner der Aktionen heran, aber ewig konnte das nicht so weitergehen. Schließlich war Stieglitz nunmehr erwachsen, wurde demnächst achtzehn. So alt wie Grin damals auf der Eisenbahnbrücke.
    Jetzt noch nicht! hatte er sich letzte Nacht einmal mehr gesagt, als sie zur Aktion rüsteten. Und hatte Stieglitz kurzerhand nach Moskau vorausgeschickt – angeblich, um einen Kontakt zu prüfen.
    Stieglitz’ Farbe war ein zarter Pfirsichton. Was sollte aus dem für ein Kämpfer werden? Obwohl, mitunter gehen gerade aus solchen die wahren Helden hervor. Er mußte dem Jungen seine Feuertaufe organisieren. Aber die Hinrichtung eines Verräters eignete sich dafür wahrlich nicht.
    »Keiner geht irgendwohin«, sagte Grin bestimmt. »Es wird geschlafen. Ich halte als erster Wache. In zwei Stunden löst mich Rachmet ab.«
    »Oje!« seufzte der ehemalige Kornett und lächelte. »Du bist in allem unschlagbar, Grin, auch in puncto Langeweile. Bankangestellter hättest du werden sollen und nicht Terrorist.«
    Doch er leistete keine Widerrede, es wäre auch sinnlos gewesen.
    Sie warfen das Los: Rachmet durfte im Bett schlafen, Jemelja auf dem Diwan, Stieglitz mußte auf die zusammengelegte Wolldecke.
    Noch eine Viertelstunde klangen Stimmen und Gelächter aus dem Schlafzimmer, dann wurde es still. Bald darauf lugte der Hausherr aus seinem Kabinett, das Gold seines Kneifers

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