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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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schimmerte im Halbdunkel.
    »Guten Abend«, brummte er unschlüssig.
    Grin nickte, doch der Privatdozent verschwand nicht wieder.
    Hierdurch fühlte sich Grin zu etwas Entgegenkommenbemüßigt. Immerhin bereiteten sie dem Mann Ungelegenheiten, ein Risiko war auch dabei. Auf Begünstigung von Terroristen stand die Srafkolonie.
    »Wir machen Ihnen Umstände, Herr Aronson, ich weiß«, sagt er höflich. »Gedulden Sie sich noch ein wenig – morgen sind wir wieder weg.«
    Aronson druckste, er schien etwas auf dem Herzen zu haben, und Grin ahnte: Er wollte reden. Typischer Intellektueller. Wenn man die erst anfangen ließ, hörten sie bis zum Morgen nicht wieder auf.
    Nein. Nur das nicht. Erstens führte es zu nichts, mit Leuten, die man nicht kannte, abstrakte Gespräche zu führen, und zweitens hatte er nachzudenken.
    »Lassen Sie sich nicht stören«, sagte er und stand entschlossen auf. »Ich verziehe mich in die Küche.«
    Dort setzte er sich neben einen Vorhang (dahinter lag die Kammer des Dienstmädchens, wie er bereits festgestellt hatte) auf einen harten Stuhl und sann. Er dachte an T.G. Und dies wohl zum tausendsten Mal in den letzten Monaten.
     
    Angefangen hatte es im September, ein paar Tage, nachdem Zobel sich selbst hingerichtet hatte: Die Bombe, die er auf Chrapow warf, als der aus der Kirche kam, fiel vor den Bordstein, und alle Splitter trafen den Werfer.
    Kurz darauf kam der erste Brief.
    Kommen war das falsche Wort – er fand sich an. Auf dem Eßtisch der Wohnung, wo die Gruppe damals logierte. Nur wenige hatten Zugang.
    Von der Kampfgruppe war seinerzeit ohnehin nur der Name übrig; nach Zobels Tod gehörte ihr, von Gehilfen und Kontaktpersonen abgesehen, Grin ganz allein an.
    Die Bildung der Gruppe war eine Geschichte für sich. Als Grin illegal nach Rußland zurückgekehrt war, hatte er sich lange gefragt, wo er am meisten würde ausrichten können. Mit anderen Worten: wohin das Streichholz halten, damit ein ordentlicher Brand daraus entstand. Er transportierte Flugblätter, half eine Druckerei im Untergrund aufzubauen, bewachte einen Parteikongreß. All dies war nötig – doch er hatte nicht den stählernen Menschen aus sich geschmiedet, um Arbeiten zu verrichten, die jeder leisten konnte.
    Allmählich aber bekam er sein Ziel ins Visier. Es ging um Terror – immer noch. Nach Zerschlagung der Organisation »Narodnaja Wolja« war der praktische revolutionäre Kampf beinahe zum Erliegen gekommen. Die Polizei war inzwischen eine andere als in den siebziger Jahren. Spione und Provokateure allerorten. Zwei, drei geglückte Anschläge und ein Dutzend mißglückte – das war alles, was man in zehn Jahren vorzuweisen hatte. Wozu sollte das gut sein?
    Ohne Tyrannenmord keine Revolution – dies war ein Axiom. Allein mit Flugblättern und Bildungszirkeln ließ sich der Zarismus nicht niederschlagen. Terror war so notwendig wie die Luft zum Atmen, wie ein Schluck Wasser in der Wüste.
    Nach reiflichem Erwägen schritt Grin zur Tat. Er sprach mit Melnik, einem ZK-Mann, dem er rückhaltlos vertraute, und erlangte ein vorsichtiges Einverständnis: Die erste Aktion sollte er auf eigene Faust und eigenes Risiko durchführen. Gelang sie, würde die Partei die Gründung einer Kampfgruppe bekanntgeben und sie in Zukunft finanziell und organisatorisch unterstützen. Im Falle des Mißlingens hatte er als Einzeltäter gehandelt.
    Dies war vernünftig. Eine Einzelaktion war stets am sichersten– sich selbst gab man der Geheimpolizei zuletzt preis. Grin hatte seinerseits auch eine Bedingung gestellt: Melnik sollte als einziger im ZK von ihm wissen, alle Kontakte hatten über ihn zu laufen. Würden Helfer gebraucht, wollte Grin sie selber rekrutieren.
    Der erste Auftrag verlangte von ihm, ein Urteil zu vollstrecken, das schon vor längerem gegen Geheimrat Jakimowitsch verhängt worden war. Dieser Jakimowitsch war ein Schuft und Mörder. Vor drei Jahren hatte er eine Handvoll Studenten wegen Vorbereitung eines Anschlags auf den Zaren ans Schafott geliefert. Eine durch und durch schmutzige Sache, angezettelt von der Geheimpolizei und besagtem Jakimowitsch, der damals noch nicht Geheimrat, sondern ein einfacher kleiner Staatsanwaltsgehilfe war.
    Grin ermordete ihn beim sonntäglichen Spazierengehen im Park. Ganz einfach, ohne viel Aufhebens: Er ging hin und stieß ihm einen Dolch mit den eingravierten Buchstaben
KG
ins Herz. Bevor die Leute ringsum recht begriffen, was geschah, hatte er – zügig, aber nicht im

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