Tote im Salonwagen
Flüßchens Sestra, wo Arbeiter dabei waren, die Strecke zu säubern. An der nächsten Bahnstation ergatterten sie eine verwaiste alte Draisine und rollten auf ihr bis zum Moskauer Rangierbahnhof. Reichlich fünfzig Werst den rostigen Hebel zu schwingen, noch dazu bei Sturm und Schneetreiben, war natürlich kein Kinderspiel. Kein Wunder, daß die Jungen irgendwann mit den Kräften am Ende waren, sie waren ja nicht aus Stahl. Zuerst machte Rachmet schlapp, dann auch der kräftigere Jemelja. Die ganze zweite Hälfte des Weges mußte Grin allein bestreiten.
»Wie der böse Drache Gorynytsch aus dem Märchen!« rief Jemelja und schüttelte begeistert seinen Löwenkopf. »Ein halbes Stündchen in die Höhle kriechen, die alte Schuppenhaut abwerfen, die abgeschlagenen Köpfe nachwachsen lassen, und schon ist der Drache wieder neu. Ich dachte, ich bin der Stier, aber mir hängt die Zunge immer noch aus dem Hals.«
Jemelja war ein guter Kämpfer. Kräftig, die Ruhe bewahrend, ohne jede intellektuelle Arroganz. Ein angenehmes, besänftigendes Dunkelbraun. Seinen Decknamen hatte er zu Ehren Pugatschows gewählt, früher hatte er Nikifor Tjuningeheißen. Er war ein echtes Proletarierkind, der Vater Arbeiter in einem Rüstungsbetrieb. Breite Schultern, breites Gesicht, mit kindlich kleiner Nase und gutmütigen Kulleraugen. Es kam nicht oft vor, daß aus der am meisten geknechteten Klasse standhafte, bewußte Kämpfer hervorgingen – doch war einmal einer darunter, dann konnte man sich auf ihn verlassen. Grin selbst hatte Jemelja aus fünf von der Partei geschickten Anwärtern ausgewählt. Das war, nachdem Zobel die Bombe auf Chrapow danebengeworfen hatte und in der Kampfgruppe deswegen ein Platz frei geworden war. Grin hatte Nervenstärke und Auffassungsgabe des Neulings getestet und war nicht enttäuscht worden.
Bei der Aktion in Jekaterinograd hatte Jemelja vorzüglich seinen Mann gestanden. Als die Droschke des Gouverneurs zur angegebenen Zeit (und tatsächlich ohne Eskorte) an der unscheinbaren Villa in der Michelsonowskaja vorfuhr und der Dicke schwerfällig ausstieg, lief Grin auf ihn zu und gab zwei Schüsse ab. Dann rannte er in eine Hauseinfahrt und über den Hof auf die benachbarte Straße, wo Jemelja, den Fuhrmann mimend, auf ihn wartete. Hier aber hatten sie Pech: Just im selben Moment lief an dem falschen Fuhrwerk ein Reviervorsteher mit zwei Schutzleuten vorüber. Eben noch hatten die Polizisten irgendwo Schüsse gehört, und nun kam da ein Mann aus dem Hof gestürmt, ihnen direkt in die Arme. Zu allem Unglück hatte Grin den Revolver schon weggeworfen. Einem der Uniformierten konnte er einen Kinnhaken verpassen, die beiden anderen aber hingen ihm im nächsten Moment an den Armen, und der am Boden Liegende blies in seine Trillerpfeife. Es hätte dumm ausgehen können, doch der Novize behielt die Nerven. Ganz gemütlich kam er von seinem Bock gestiegen und hieb dem einen Schutzmann die schwereFaust in den Nacken, so daß der zusammensackte, währenddessen wurde Grin mit dem anderen fertig. Im Nu waren sie auf und davon, den gellenden Polizeipfiff im Rücken.
Wenn er Jemelja so ansah, wurde ihm warm ums Herz. Es stimmt nicht, daß das ganz Volk nur auf dem Ofen liegt, dachte er. Die helleren Köpfe und die, die ein Gewissen haben, sind schon am Aufwachen. Die Opfer also nicht vergeblich, das Blut nicht umsonst vergossen – das eigene nicht und nicht das fremde.
»Das kommt, wenn einer auf dem blanken Boden schläft und sich von den Säften der Erde nährt!« sagte Rachmet grinsend und strich sich seine fesche Strähne aus der Stirn. »Ich hab derweil schon mal zu dichten angefangen, Grin. Ein Poem über dich!«
Und er begann zu deklamieren:
»Lebte einst ein Kerl aus Eisen,
Grin genannt, der tat beweisen,
daß ein hartgesottner Mann
auch auf Brettern schlafen kann.«
Stieglitz prustete los, Rachmet brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Es gibt noch eine andere Variante«, sagte er und fuhr fort:
»Lebte einst ein armer Ritter,
Nannte sich der Tapfre Grin.
Zog sich ein so manchen Splitter –
Weich zu ruhen quälte ihn.«
Puschkin, umgemodelt, dachte Grin, während die zwei jungen Männer einträchtig und aus vollem Halse lachten. Muß wohl komisch sein. Grin wußte von sich, daß er Komik nichtverstand. Das war nicht schlimm, er konnte damit leben. Aber aus Stahl, nicht aus Eisen! korrigierte Grin noch im stillen.
Nein, es war wohl nicht zu ändern: Diesen Rachmet mochte er
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