Tote im Salonwagen
nicht. Ein Eskapist reinsten Wassers. Obwohl für die Sache überaus nützlich, wie er zugeben mußte. Grin hatte ihn letzten Herbst in die Gruppe aufgenommen, als er für eine Aktion im Ausland einen zweiten Mann brauchte – mit Jemelja ließ sich in Paris wenig anfangen.
Zuvor hatte er für Rachmet die Flucht aus der Gefängniskutsche organisiert, als sie ihn nach der Urteilsverkündung vom Gericht abtransportierten. Über den Ulanenkornett Selesnjow war seinerzeit in allen Zeitungen geschrieben worden. Der junge Offizier hatte beim Appell einen seiner Soldaten vor dem Obersten in Schutz genommen, war von diesem beschimpft worden und forderte ihn daraufhin zum Duell; als der Oberst die Forderung zurückwies, erschoß ihn Rachmet vor den Augen des ganzen Regiments.
Die hübsche Geschichte war nach Grins Geschmack. Besonders daß der junge Mann sich nicht gescheut hatte, eines gemeinen Soldaten wegen seine Karriere aufs Spiel zu setzen. Solche Tollkühnheit ließ sich gebrauchen. Außerdem glaubte Grin an eine Seelenverwandtschaft: Daß dumpfe Schuftigkeit einen zum Äußersten trieb – das kannte er gut.
Doch es zeigte sich, daß Nikolai Selesnjows Triebfeder eine gänzlich andere war. Die Farbe, die Grin bei näherer Bekanntschaft an ihm entdeckte, war ein alarmierendes Kornblumenblau. »Ich bin versessen auf starke Reize«, pflegte Rachmet zu sagen. Es war die Neugier – ein hohles, unnützes Gefühl, das den flüchtigen Kornett durch das Leben hetzte, dazu trieb, hier von diesem, dort von jenem Teller zu kosten – je gepfefferter die Häppchen, desto besser. Grin begriff: Nichteiner Ungerechtigkeit wegen hatte dieser Mann auf seinen Kommandeur geschossen, sondern weil das ganze Regiment ihm dabei zusah, atemlos gespannt, was geschehen würde. Und nun war er aus purer Abenteuerlust zu den Revolutionären gestoßen. Ein Leben auf der Flucht, mit Scharmützeln, das gefiel ihm. Eine konspirative Reise nach Paris erst recht.
Über Rachmets Motive machte Grin sich also keine Illusionen mehr. Auch wenn er sich einen Decknamen à la Tschernyschewski zugelegt hatte – er war aus anderem Holz. Würde nur solange bei der Stange bleiben, wie die terroristischen Akte ihn nicht langweilten. Wenn seine Neugier gestillt war, würde er nicht zu halten sein.
Grin verfolgte, was Rachmet anging, insgeheim einen ganz anderen Gedanken – wie sich nämlich aus einem nutzlosen Menschen der denkbar größte Nutzen für die Sache ziehen ließ. Die Idee war, ihn in eine hochwichtige Aktion zu schicken, aus der es kein Entrinnen gab. Sollte er sich doch als lebende Bombe unter die Hufe des Gespanns dieses oder jenes Ministers oder Gouverneurs werfen! Rachmet würde den sicheren Tod nicht scheuen – denn genau dies war das Spiel, welches ihm das Leben bislang noch vorenthalten hatte. Für den Fall, daß das Attentat in Klin gescheitert wäre, hatte Rachmet den Auftrag gehabt, Chrapow am heutigen Abend auf dem Jaroslawler Bahnhof in Moskau, unmittelbar vor seiner Abreise gen Sibirien, hochgehen zu lassen. Nun war Chrapow schon tot, doch andere lebten, das Imperium hielt sich Bluthunde in großer Zahl. Hauptsache, man kam dem Moment zuvor, da in Rachmets Augen die Langeweile auftauchte.
Allein dieser Hintergedanke hatte Grin bewogen, ihn in der Gruppe zu belassen, nachdem im Dezember die Geschichte mit Schwerubowitsch passiert war.
Der Auftrag der Partei hatte geheißen: den Renegaten hinzurichten, der die Genossen in Riga verraten und an den Galgen gebracht hatte. Grin mochte diese Art Arbeit wenig leiden, darum hatte er nichts einzuwenden, als Rachmet sich für diesen Auftrag erbot.
Anstatt Schwerubowitsch einfach zu erschießen, ging Rachmet jedoch mit Phantasie vor: Er schüttete ihm Schwefelsäure ins Gesicht. Zur Abschreckung künftiger Provokateure, wie er behauptete – in Wahrheit wollte er wohl bloß mit ansehen, wie einem bei lebendigem Leibe die Augen aus den Höhlen fließen, Lippen und Nase abfallen. Seit jenem Tag mußte Grin sich jedesmal überwinden, Rachmet ins Gesicht zu sehen, doch um der Sache willen hielt er an sich.
»Zeit zum Schlafengehen«, bestimmte er. »Es ist erst zehn, ich weiß. Trotzdem. Morgen geht es zeitig los. Wir wechseln das Quartier.«
Und er warf einen Blick hinter sich auf die weiße Tür des Arbeitszimmers. Dort saß ihr Gastgeber, Semjon Aronson, Privatdozent an der Technischen Hochschule. Ursprünglich hatten sie in Moskau anderswo unterkommen sollen, doch es gab eine Komplikation:
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