Tote im Salonwagen
nie gefühlt.
Wieso das? Was war los?
Er fand keine Antwort.
Jetzt bog er ab in die Malaja Nikitskaja, wo es noch weniger Laternen gab als auf dem Boulevard. Hier fing das gepflasterte Trottoir an, und sein Stock mit der stählernen Spitze klapperte munter über den unter dünner Schneeschicht liegenden Stein.
Vor dem Tor zu seinem Haus – die Pforte im pompösen Zierrat kaum zu erkennen – hielt der Staatsrat plötzlich inne. Er hatte eine seitliche Bewegung wahrgenommen, eher gespürt als gesehen. Während er herumfuhr, griff die Linke instinktiv nach dem Knauf seines Stocks, worin ein schlanker Degen von dreißig Zoll Länge steckte, doch im nächsten Moment ließ die Anspannung der Muskeln wieder nach.
Im Schatten des Gebäudes stand tatsächlich jemand – und dieser Jemand war offenbar ein weibliches Wesen.
»Wer ist da?« fragte Fandorin und starrte ins Dunkel.
Die Gestalt kam näher. Zuerst gewahrte er den Pelzkragen, den halbkreisförmigen Zobelbesatz der Kapuze, und dann, im Widerschein einer entfernt stehenden Laterne, die aufflammenden großen Augen im dreieckigen Gesicht.
»Mademoiselle Litwinowa?« fragte Fandorin erstaunt. »Was tun Sie hier? Zu dieser Stunde!«
Das Fräulein aus Larionows Wohnung trat ganz nahe an ihn heran. Ihre Hände waren unter einem üppigen Muff verborgen. Diese Augen funkelten wirklich nicht ganz irdisch.
»Sie Schuft!« stieß die exaltierte junge Dame hervor, und ihre Stimme klirrte vor Haß. »Ich stehe hier seit zwei Stunden! Zur Eissäule erstarrt!«
»Wieso bin ich ein Schuft?« fragte Fandorin überrascht. »Ich konnte doch nicht wissen, daß Sie hier auf mich warten …«
»Das meine ich nicht! Tun Sie nicht so begriffsstutzig! Sie wissen sehr gut, was ich meine! Schuft! Ich habe Sie durchschaut! Sie wollten mir bloß den Kopf verdrehen! Mit Ihrem Engelsgesicht! Oh, ich durchschaue Sie gut! Sie sind tatsächlich tausend Mal schlimmer als alle diese Chrapows und Burljajews zusammengenommen! Man muß Sie auslöschen! Gnadenlos!«
Bei diesen Worten zog das aufgeregte Fräulein die Hand aus dem Muff, in ihr steckte das bereits bekannte Revolverchen, das der Staatsrat seiner Besitzerin anscheinend doch vorschnell wieder ausgehändigt hatte.
Fandorin wartete auf den Schuß – doch als dieser nicht kam und er sah, daß die Hand im flauschigen Handschuh zitterte, die Mündung hin- und herschwankte, tat er einen schnellen Schritt nach vorn, packte Mademoiselle Litwinowa beim schmalen Handgelenk und drehte den Lauf zur Seite.
»Ihnen ist sehr daran gelegen, heute noch einen Staatsdiener anzuschießen, ja?« fragte Fandorin leise, in das Mädchengesicht blickend, das ganz nahe vor ihm war.
»Ich hasse Sie! Sie Büttel!« wisperte sie und schlug ihm mit der Faust ihrer freien Hand gegen die Brust.
Er mußte den Stock loslassen und das Mädchen auch bei der anderen Hand nehmen.
»Sie Bluthund!«
Fandorin sah sehr genau hin und konnte zweierlei erkennen. Erstens war Mademoiselle Litwinowa in der Umrahmung des schneebestäubten Pelzes, im fahlen Licht von Laterne, Mond und Sternen, geradezu betörend schön. Und zweitens war das Feuer in ihren Augen entschieden zu heiß, um nur ein Ausdruck von Haß zu sein.
Seufzend neigte er sich vornüber, umfaßte ihre Schultern und gab ihr einen heftigen Kuß. Allen Gesetzen der Physik zum Trotz waren ihre Lippen warm.
»Gendarm!« hauchte die Nihilistin und schien sich abwenden zu wollen.
Im nächsten Moment jedoch griffen ihre beiden Hände um seinen Hals und zogen ihn heran. Das harte Rohr des Revolverlaufs grub sich in seinen Nacken.
»Wie haben Sie mich denn gefunden?« fragte er, nach Luft schnappend.
»Ein Trottel also auch noch«, stellte Esfir fest. »In jedem Adreßbuch … Das waren doch Ihre Worte!«
Sie zog ihn erneut zu sich heran – und diesmal so ungestüm, daß der kleine Revolver davon losging. Der Knall verschloß Fandorin das rechte Ohr und scheuchte die Krähen von ihrem Schlafplatz auf der Pappel.
VIERTES KAPITEL
Geld wird gebraucht
Alle erforderlichen Maßnahmen waren getroffen.
Genau sechzig Minuten hatten sie auf Rachmet gewartet, bevor sie aufbrachen und in das Ausweichquartier umzogen.
Dieses war miserabel: das Häuschen eines Stellwärters nahe dem Windauer Bahnhof. Der Dreck, die Enge, die Kälte – all das wäre noch gegangen, doch obendrein war es nur ein einziger Raum, in dem es Wanzen gab und natürlich kein Telefon. Der Vorteil war, daß man freie Sicht in alle vier
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