Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
Vom Netzwerk:
Himmelsrichtungen hatte.
    Noch vor Sonnenaufgang hatte Grin Stieglitz mit einer Nachricht für Nadel losgeschickt, die in einem toten Briefkasten zu hinterlegen war:
Rachmet weg. Benötigen neues Quartier. Um zehn am alten Ort.
    Bequemer wäre es gewesen, die Kontaktperson noch von Aronson aus anzurufen, doch hatte Nadel in ihrer Vorsicht dort weder Nummer noch Adresse hinterlassen. Ein Haus mit Mezzanin, von dem aus man mit dem Fernglas in die Wohnung des Privatdozenten hineinsehen konnte – das war alles, was er über ihren Aufenthaltsort wußte. Zu wenig, um sie zu finden.
    Als »Briefkasten« für besondere Mitteilungen fungierte eine alte Remise, die in einer Seitengasse zum Pretschistenski Boulevard gelegen war. Dort zwischen den Bohlen gab es einegeeignete Ritze – gerade groß genug, daß man im Vorübergehen für einen kurzen Moment mit der Hand hineinfahren konnte.
    Vor dem Aufbruch hatte Grin den Privatdozenten noch einmal an die vereinbarte Signalgebung erinnert. Und daß er mit ihrem Genossen, falls er noch auftauchte, tunlichst wie mit einem Fremden sprechen sollte: Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie von mir wollen … etwas in dieser Art. Rachmet war nicht dumm, er würde begreifen, was Sache war. Den Briefkasten kannte auch er. Falls es etwas zu erklären gab, wußte er, wie das ging.
    Um neun hatte Grin in der Nähe des Sucharew-Turms Posten bezogen, wo sie sich schon gestern morgen mit Nadel getroffen hatten. Ort und Zeitpunkt waren günstig: Es herrschte großes Gedränge.
    Über einen Hof und eine Hintertreppe gelangte er zu dem Ausguck, den er am Abend zuvor für sich entdeckt hatte: ein unauffälliger kleiner Dachboden mit halb vernagelter Luke, die auf den Platz hinausging.
    Konzentriert, ohne sich ablenken zu lassen, taxierte er jeden, der sich dort unten herumtrieb. Die Straßenhändler waren alle echt. Der Drehorgelspieler auch. Die Kundschaft wechselte ständig, keiner hielt sich müßig auf.
    Die Luft war rein.
    Um Viertel vor zehn erschien Nadel. Lief zuerst weiter, kam zurück. Auch sie ging auf Nummer Sicher. Das war korrekt. Er durfte hinunter.
     
    »Schlechte Nachrichten«, sagte die Kontaktperson anstelle einer Begrüßung. Ihr strenges, schmales Gesicht schien blaß und verstört.
    Sie liefen nebeneinander die Sretenka entlang. Grin hörte schweigend zu.
    »Der Reihe nach. Erstens hat die Polizei gestern abend einen Übergriff auf Larionows Wohnung verübt. Verhaftungen gab es keine. Aber hinterher hat jemand geschossen. Larionow ist tot.«
    Das war Rachmet, das sieht ihm ähnlich! schoß es Grin durch den Kopf, und er war erleichtert und verärgert zugleich. Der sollte bloß auftauchen – dann würde er ihm eine Lektion in Disziplin erteilen.
    »Zweitens?« fragte er.
    Nadel schüttelte bloß den Kopf.
    »Etwas übereilt, diese Strafaktion. Ihr hättet euch erst mal erkundigen sollen.«
    »Was ist zweitens?« beharrte Grin auf seiner Frage.
    »Wo euer Rachmet steckt, war nicht in Erfahrung zu bringen. Sobald ich etwas weiß, teile ich es mit. Drittens. Aus der Stadt bekommen wir euch so bald nicht hinaus. Wir hatten vor, einen Güterzug zu nehmen, geschlossener Waggon, doch an Werst zwölf und dann noch mal an Werst sechzehn prüfen die Bahngendarmen derzeit sämtliche Plomben.«
    »Nicht weiter schlimm. Da ist noch eine schlechtere Nachricht, ich sehe es Ihnen an. Reden Sie.«
    Sie nahm ihn beim Ellbogen, lenkte ihn aus dem Gedränge in eine menschenleere Seitenstraße.
    »Sondermitteilung aus der Zentrale. Per Kurier mit dem Frühzug gekommen. Gestern früh, genau um die Zeit, als ihr Chrapow liquidiert habt, hat ein Einsatztrupp vom Polizeidepartement das Quartier am Litejny ausgehoben.«
    Grins Miene verfinsterte sich. Am Petersburger LitejnyProspekt, im Geheimtresor einer vorzüglich getarnten Wohnung, wurde die Parteikasse aufbewahrt – sämtliche Mittel, die vom Überfall im Januar noch übrig waren, als sie das Kontor der Kredit- und Darlehensgesellschaft »Petropol« ausgeraubt hatten.
    »Und? Gefunden?« fragte er knapp.
    »Ja. Sie haben das ganze Geld. Dreihundertfünfzigtausend. Das ist ein schwerer Schlag für die Partei. Ich soll ausrichten, daß man jetzt alle Hoffnungen auf euch setzt. In elf Tagen muß die letzte Überweisung nach Zürich für die Druckerei getätigt sein. Einhundertfünfundsiebzigtausend französische Franken. Andernfalls wird die ganze Ausrüstung beschlagnahmt. Dreizehntausend Pfund Sterling brauchen wir außerdem für den Ankauf von

Weitere Kostenlose Bücher