Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
Vom Netzwerk:
…«
    Der alte Dolgorukoi kniff die weitsichtigen Augen zusammen, schürzte die Lippen.
    »Frol, mein Bester, flitz doch mal in den Bankettsaal hinüber und tausche die Tischkarten aus. Den Gouverneur mit Gattin setzen wir etwas weiter weg. Herr Fandorin und seine Dame kommen zu meiner Rechten.«
     
    »Wie? Was? Aufs Maul?« fragte der Generalgouverneur ungläubig zurück und klapperte mit den Augendeckeln – ihm war gerade aufgefallen, wie sehr der Ausschnitt seiner Nachbarin klaffte.
    Das anstößige Wort bewirkte, daß es am oberen Tischende, wo die namhaftesten der geladenen Gäste saßen, auffällig still wurde.
    »Aufs Maul, was denn sonst!« bekräftigte Esfir, und dies dem schwerhörigen Alten zuliebe besonders laut. »Der Gymnasiumsdirektor hat gesagt: ›Mit Ihrem Benehmen, Litwinowa, sind Sie hier nicht zu halten. Für keine jüdischen Silberlinge.‹ Da hab ich ihm eine reingehauen. Was hätten Sie denn an meiner Stelle getan?«
    »Stimmt, das ließ sich wohl nicht vermeiden«, gab Dolgorukoi zu. »Und er? Was hat er drauf gemacht?«
    Esfir, zwischen dem Fürsten und Fandorin sitzend, plauderte fröhlich mit dem Statthalter von Moskau, ohne die Pfannkuchen – berühmt ob ihrer einzigartigen Mürbe – deswegen zu vernachlässigen.
    Eigentlich war das Ganze ein Tête-à-tête zwischen dem Fürsten und seiner extravaganten Tischdame. Alle übrigen, soweit sie in Hörweite saßen, bekamen den Mund nicht auf; Fandorin saß wie versteinert.
    Die weibliche Sinnlichkeit, die Arbeiterfrage, die Schädlichkeit von Leibwäsche, die jüdischen Siedlungsrayons – das waren nur einige der Themen, die anzuschneiden Mademoiselle Litwinowa während der ersten drei Gänge gelang. »Elle est ravissante, votre élue 2 «, flüsterte Dolgorukoi Fandorin begeistert zu, als sie sich für einen Moment zurückzog (nicht ohne deutlich mitgeteilt zu haben, wohin und wozu). Und auch Esfir fand Erast gegenüber lobende Worte für den Fürsten: »Netter Zausel. Weiß gar nicht, wieso unsere Leute so auf ihn schimpfen.«
     
    Man war beim sechsten Pfannkuchengang (auf Stör, Sterletpastete und Kaviar folgten Obst, Honig und Konfitüre), als am anderen Ende des Bankettsaals Bewegung aufkam: Der diensthabende Adjutant erschien. Eilends und auf Zehenspitzen, mit leise klingelnden Achselschnüren durchquerte er den schlauchförmigen Saal, was selbstredend nicht unbemerkt blieb. Das bestürzte Gesicht des Offiziers ließ erkennen, daß etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein mußte. Die Gäste wandten sich um, sahen dem eilenden Boten nach,und nur der Generalgouverneur bemerkte einstweilen nichts von alledem, da er Esfir Litwinowa eben etwas ins Ohr raunte.
    »Das kitzelt!« sagte sie, rückte ein Stück ab von dem gefärbten buschigen Schnauzbart und starrte den Adjutanten neugierig an.
    »Euer Erlaucht … Ein außerordentliches Vorkommnis!« meldete dieser schwer atmend.
    Er bemühte sich, leise zu sprechen, doch in der eingetretenen Stille vernahm es beinahe jeder.
    »Nanu? Was gibt es denn?« fragte Dolgorukoi, immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen. »Was denn für ein Vorkommnis?«
    »Soeben wurde gemeldet, daß auf den amtierenden Chef der Gendarmerieverwaltung ein Attentat verübt worden ist. Oberst Swertschinski ist tot. Sein Adjutant verwundet. Es gibt weitere Opfer. Die Attentäter sind untergetaucht. Der Zugverkehr nach Petersburg ist eingestellt.«

ACHTES KAPITEL
    Wer keine Sorgen hat
    Die Nacht hatte er nur zwei Stunden geschlafen. Was weder an den Wanzen, noch an der stickigen Luft im Raum lag, nicht einmal an dem pochenden Schmerz – alles Kleinigkeiten, die zu beachten nicht lohnte. Es gab ein wesentlicheres Problem.
    Grin lag da, die Arme unter dem Kopf, und dachte konzentriert nach. Neben ihm auf dem Boden der engen Kammer schliefen Jemelja und Stieglitz. Ersterer wälzte sich unruhig herum, kämpfte offenbar mit irgendwelchen Blutsaugern. Der andere schrie in Abständen leise auf. Erstaunlich, daß er nach den Ereignissen des Tages überhaupt hatte einschlafen können.
    Das überraschende Ende der Zusammenarbeit mit dem Joker hatte schnelles Handeln erforderlich gemacht. Als erstes brachte Grin die hysterisch schluchzende Julie zur Besinnung, wofür ein paar sachte Ohrfeigen vonnöten waren. Sie hörte auf zu schlottern und tat, was er ihr auftrug – nur daß sie es vermied, nach dem leblosen Körper zu sehen und auf die helle Sektpfütze, die zusehends dunkler wurde, da sich das Blut mit ihr

Weitere Kostenlose Bücher