Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
durchgestrichen hatte. Als mir das nicht gelang, holte ich einen Radiergummi und radierte die Bleistiftstriche weg. Lucie hatte recht gehabt. In zweien der Fälle waren die Leichen in Fässer mit Säure gestopft worden – ein neuer Trick der Drogenmafia, unliebsame Konkurrenten verschwinden zu lassen.
Der dritte durchgestrichene Fall allerdings gab mir zu denken. Seiner LML-Nummer nach mußte er vor 1990 passiert sein, und Pelletier hatte die Obduktion vorgenommen. Leichenbeschauer war keiner eingetragen. Im Namensfeld stand Singe , also Affe. Die Felder für Geburtstag, Datum der Autopsie und Todesursache waren leer. Dann fand ich noch den Vermerk » démembrement / post-mortem «, der den Computer dazu gebracht hatte, den Fall mit in die Liste aufzunehmen.
Nachdem ich mein Croissant fertig gegessen hatte, ging ich ins Archiv und holte mir die zu dem Fall gehörende Akte. Sie enthielt nur drei Dinge: Einen Polizeibericht, eine etwa eine Seite lange Erklärung des Pathologen und einen Umschlag mit Photos. Nachdem ich die Bilder angesehen und die Berichte gelesen hatte, machte ich mich auf die Suche nach Pelletier.
»Hätten Sie mal eine Minute Zeit für mich?« fragte ich, als ich in der offenen Tür seines Büros stand.
Pelletier, der mit nach vorn gebeugten Schultern am Mikroskop saß, richtete sich auf. Er hatte seine Brille in der einen und einen Kugelschreiber in der anderen Hand. »Kommen Sie rein«, sagte er, während er die Brille aufsetzte.
Sein Büro hatte zwar kein Fenster wie meines, war dafür aber geräumig. Pelletier stand auf und deutete auf einen von zwei Stühlen, die vor einem niedrigen Tisch abseits von seinem Arbeitsplatz standen. Er griff in die Tasche seines Laborkittels, holte ein Päckchen duMaurier-Zigaretten hervor und bot mir eine an. Ich schüttelte den Kopf. Es war bestimmt schon das tausendste Mal, daß wir dieses Ritual wiederholten. Pelletier war in seinen Gewohnheiten mindestens genauso eingefahren wie Claudel.
»Wie kann ich Ihnen helfen?« fragte er, während er sich eine Zigarette anzündete.
»Ich interessiere mich für einen alten Fall, den Sie bearbeitet haben. Einen aus dem Jahr 1990.«
» Ah, mon Dieu , wie soll ich mich an etwas so weit zurückliegendes noch erinnern? Mir fällt ja manchmal nicht einmal mehr meine eigene Adresse ein.« Er beugte sich vor und flüsterte mir hinter vorgehaltener Hand verschwörerisch zu: »Ich schreibe sie mir immer auf meine Streichholzschachtel, für alle Fälle.«
Wir lachten beide. »Trotzdem glaube ich, daß Sie sich an alles erinnern können, an das Sie sich erinnern möchten, Dr. Pelletier.«
Er zuckte mit den Achseln und schüttelte mit Unschuldsmiene den Kopf.
»Ich habe die Akte übrigens mitgebracht«, sagte ich und zeigte sie ihm, bevor ich sie aufschlug. »Im Polizeibericht steht, daß die Überreste in einer Sporttasche hinter dem Voyageur Busbahnhof gefunden wurden. Ein Säufer hat sie aufgemacht, weil er sich einen Finderlohn erhoffte.«
»Ist ja rührend. Diese edlen Penner sollten vielleicht einen Klub der Menschenfreunde gründen.«
»Wie dem auch sei, der Geruch, der aus der Tasche kam, war sogar dem Säufer zuviel. Er soll gesagt haben…« Ich überflog den Polizeibericht, um die genaue Formulierung zu finden. »…›der Gestank des Satans stieg auf und legte sich auf meine Seele‹. Zitatende.«
»Ein Dichter. So was mag ich«, sagte Pelletier. »Würde mich interessieren, was er über meine Unterhose sagen würde.« Ich ignorierte seine Bemerkung und las weiter. »Der Säufer hat die Tasche zum Hausmeister des Busbahnhofs gebracht, und der hat die Polizei verständigt. Die fand darin dann mehrere Körperteile, die in eine Art Tischtuch eingewickelt waren.«
» Ah oui , jetzt erinnere ich mich«, sagte Pelletier und deutete mit einem seiner nikotingelben Finger auf mich. »Grauenvoll. Abscheulich.« Sein Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck an.
»Inwiefern?«
»Sagen Sie bloß, Sie haben noch nichts vom ›Fall Endstation‹ gehört.«
»Nein, habe ich nicht.«
Er hob fragend die Augenbrauen.
»Handelte es sich tatsächlich um einen Affen?«
Pelletier nickte ernst. »Einen Kapuzineraffen.«
»Warum kam er hierher zu uns?«
»Nun, er war tot.«
»Das ist mir auch klar.« Pelletier war vielleicht ein Scherzkeks. »Aber damit ist er noch lange kein Fall für den Leichenbeschauer.«
Es mußte wohl mein Gesichtsausdruck gewesen sein, der ihn zu einer ernsthaften Antwort bewog. »Zunächst wußten
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