Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
bis zum Zerreißen gespannt.
Rings um die Tote hatte sich eine riesige Blutlache auf dem grau gemusterten Linoleum ausgebreitet. Auch die Wände und die Türen der Küchenschränke waren blutverschmiert, und im Vordergrund der Photos konnte ich die Beine eines umgeworfenen Stuhles erkennen.
Vor dem blutroten Hintergrund wirkte die Leiche gespenstisch weiß. Quer über ihren Unterleib verlief knapp oberhalb ihrer Schamhaare eine bleistiftdünne Narbe, die wie ein grinsender Mund aussah. Von dieser Narbe bis hinauf zum Brustbein lief ein tiefer Schnitt, aus dem die Eingeweide quollen. Am Scheitelpunkt ihrer gespreizten Beine ragte, auf dem Photo kaum erkennbar, der Griff eines Küchenmessers aus der Leiche. Etwa eineinhalb Meter neben der Toten lag zwischen dem Spülbecken und einer Arbeitsfläche ihre rechte Hand. Francine Morisette-Champoux war siebenundvierzig Jahre alt geworden.
»Gott im Himmel«, flüsterte ich leise.
Während ich mich gerade durch den Autopsiebericht arbeitete, erschien Charbonneau in meiner Bürotür. Er schien nicht gerade in guter Stimmung zu sein. Seine Augen waren blutunterlaufen, und er machte sich nicht die Mühe, mich zu begrüßen, sondern setzte sich ohne zu fragen auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches.
Als ich ihn eintreten sah, machte sich ein trauriges Gefühl in mir breit. Sein ungelenker Gang, seine lässigen Bewegungen, seine schiere Größe berührten etwas in mir, das ich längst verloren zu haben glaubte. Oder das mich verlassen hatte.
Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, als wäre es Pete, der mir gegenübersaß, und meine Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit. Wie gut Petes Körper mir getan hatte. Ich hatte nie herausgefunden, ob es seine Größe gewesen war, die mich an ihm fasziniert hatte, oder seine entspannte Art, sich zu bewegen. Oder vielleicht war es ja auch nur die Tatsache gewesen, daß er von mir fasziniert gewesen war. Jedenfalls hatte ich nie genug von ihm kriegen können. Ich hatte immer schon sexuelle Phantasien gehabt, verdammt gute übrigens, aber seit dem Tag, an dem ich Pete vor der juristischen Bibliothek im Regen hatte stehen sehen, war er ein fester Bestandteil dieser Phantasien gewesen. So etwas wäre jetzt gar nicht schlecht, dachte ich. Großer Gott, Brennan. Brems dich. Ich zwang meine Gedanken zurück in die Gegenwart und wartete darauf, daß Charbonneau etwas sagte.
Er starrte hinunter auf seine Hände.
»Mein Kollege ist manchmal echt schlimm«, sagte er auf Englisch. »Aber im Grunde genommen ist er kein übler Bursche.«
Ich erwiderte nichts und bemerkte, daß seine Hosenbeine unten etwa sechs Zentimeter umgeschlagen und von Hand hochgenäht waren. Ich fragte mich, ob er das wohl selbst gemacht hatte.
»Er ist nun mal – ein bißchen festgefahren in seine Methoden und verabscheut jede Veränderung.«
»Stimmt.«
Er vermied es, mir in die Augen zu sehen. Ich fühlte mich unbehaglich.
»Und?« ermunterte ich ihn.
Er lehnte sich zurück und zupfte an seinem Daumennagel herum, wobei er meine Blicke immer noch vermied. Irgendwo draußen im Gang spielte ein Radio leise Hélène von Roch Voisine.
»Er sagt, daß er sich über Sie beschweren will«, sagte Charbonneau. Er ließ beide Hände sinken und blickte aus dem Fenster.
»Beschweren?« Ich versuchte, so neutral wie möglich zu klingen.
»Beim Ministerium. Und beim Direktor. Und bei LaManche. Er will sich sogar an Ihren Berufsverband wenden.«
»Und womit ist Monsieur Claudel so unzufrieden?« Ruhig bleiben.
»Er sagt, daß Sie Ihre Kompetenzen überschritten und sich in Dinge eingemischt hätten, die Sie nichts angehen. Außerdem haben Sie seiner Meinung nach seine Untersuchung empfindlich gestört.« Charbonneau blinzelte hinaus ins grelle Sonnenlicht.
Ich spürte, wie sich die Muskulatur meines Magens zusammenzog und mir ganz heiß wurde.
»Und weiter?« fragte ich mit ruhiger Stimme.
»Er glaubt, daß Sie…« Er suchte ganz offenbar nach möglichst neutralen Worten für das, was Claudel wirklich gesagt hatte, »… daß Sie übertreiben.«
»Und was bedeutet das genau?«
Noch immer schaute er nicht in meine Richtung.
»Er sagt, daß Sie den Gagnon-Fall zu etwas aufblasen, was er in Wirklichkeit gar nicht ist, daß Sie eine Menge Quatsch hineininterpretieren, der gar nicht dazugehört. Er sagt, daß Sie einen simplen Mord zu einer typisch amerikanischen Serienmörder-Psychose hochstilisieren.«
»Und weshalb sollte ich das tun?«
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