Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
wir ja nur, daß etwas Kleines, Abgehäutetes und Zerstückeltes in der Tasche lag. Es hätte alles mögliche sein können. Die Polizei tippte zunächst auf einen Fötus oder eine Frühgeburt, und so kam die Tasche zu uns.«
»Ist Ihnen an diesem Fall etwas Merkwürdiges aufgefallen?« fragte ich, war mir aber nicht sicher, worauf ich hinaus wollte.
»Nö. Nur einer von diesen zerstückelten Affen, die wir alle paar Tage hereinbekommen.« Pelletiers Mundwinkel zuckten kaum wahrnehmbar.
»Richtig.« Das war eine dumme Frage gewesen. »Aber ist Ihnen an der Art, wie man den Affen zerstückelt hatte, etwas aufgefallen?«
»Eigentlich nicht. Diese zerstückelten Affen sind doch einer wie der andere.«
Das führte zu nichts.
»Hat man eigentlich jemals den Besitzer des Affen ermittelt?«
»Doch, das hat man. Nachdem die Zeitung über den Fall berichtet hatte, rief ein Typ von der Universität bei uns an.«
»Von der UQAM?«
»Ja, ich glaube schon. Ein Biologe oder Zoologe oder so was ähnliches. Englischsprachig. Einen Augenblick –«
Er ging zu seinem Schreibtisch, wühlte in einer Schublade herum und brachte schließlich einen von einem Gummiring zusammengehaltenen Stapel Visitenkarten zum Vorschein. Er streifte den Ring ab und ging die Visitenkarten durch, bis er die gesuchte gefunden hatte.
»Das ist der Bursche«, sagte er und reichte mir die Karte. »Ich habe ihn bei der Identifizierung des Opfers kennengelernt.«
Auf der Karte stand »Dr. Parker T. Bailey, Professeur de Biologie, Université du Québec à Montréal«. Darunter waren die Adresse, die Telefon- und Faxnummer sowie die E-Mailadresse des Professors angegeben.
»Was hatte es mit dem Mann auf sich?« fragte ich.
»Dieser Herr macht an der Universität irgendwelche Experimente mit Affen. Als er eines Tages zur Arbeit kam, hatte er ein Versuchsobjekt weniger.«
»Gestohlen?«
»Gestohlen, befreit, geflohen? Wer weiß das schon. Auf jeden Fall wurde der Affe vermißt.«
»Und dann hat der Wissenschaftler von dem toten Affen in der Zeitung gelesen und hier angerufen.«
»C’est ça.«
»Was ist mit ihm dann weiter geschehen?«
»Mit wem? Mit dem Affen?«
Ich nickte.
»Wir gaben die Überreste an –« er deutete auf die Visitenkarte.
»An Dr. Bailey.«
» Oui. Schließlich hatte der Affe keine Angehörigen. Zumindest nicht hier in Quebec«, sagte Pelletier ohne das geringste Zucken im Gesicht.
»Verstehe.«
Ich besah mir noch einmal die Karte. Das führt doch zu nichts, sagte meine linke Gehirnhälfte, während meine Lippen sagten: »Dürfte ich die Karte vielleicht behalten?«
»Aber gerne.«
»Da wäre noch etwas. Warum nennt man den Fall ›Endstation‹?« Diese Frage hätte ich mir besser schenken sollen.
»Naja, das war es doch, oder etwa nicht?« antwortete Pelletier erstaunt.
»Was war was?«
»Für den Affen war Endstation.«
»Verstehe.«
»Und gleichzeitig war es auch der Ort , wo man ihn gefunden hat.«
»Wie meinen Sie das?«
»Die Endstation der Buslinie, der Busbahnhof.«
Warum mußte ich bloß in jede Falle tappen, die mir Pelletier mit seinem seltsamen Sinn für Humor stellte?
Den Rest des Nachmittags verbrachte ich damit, daß ich Einzelheiten aus den Akten in meine Tabelle eintrug. Haar-, Augen- und Hautfarben. Größen. Religionen. Namen. Daten. Orte. Sternzeichen. Alles, was mir nur einfiel nahm ich in die Tabelle auf, die ich später nach etwaigen Übereinstimmungen durchforsten wollte. Vielleicht glaubte ich, daß sich gewisse Muster von selbst bilden würden, daß die Informationen aneinander andocken würden wie Neuropeptide an ihre Rezeptoren, vielleicht brauchte ich aber auch nur eine Aufgabe, mit der ich mich beschäftigen konnte, ein geistiges Puzzlespiel, mit dem ich mir vorgaukelte, daß ich mit der Lösung des Falles weiterkäme.
Um viertel nach vier rief ich wieder bei Ryan an. Obwohl er nicht an seinem Schreibtisch war, erinnerte sich die Frau von der Vermittlung, ihn irgendwo gesehen zu haben und willigte schließlich ein wenig widerstrebend ein, ihn für mich ausfindig zu machen. Während ich wartete, fiel mein Blick noch einmal auf die Akte des Kapuzineraffen. Weil ich nichts besseres zu tun hatte, nahm ich noch einmal die Photos aus ihrem Umschlag. Sie bestanden je zur Hälfte aus Polaroids und 13x18 Zentimeter großen Farbabzügen. Dann teilte mir die Frau von der Vermittlung genervt seufzend mit, daß sie Ryan in keinem der Büros erreicht habe und es jetzt noch in der Cafeteria
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