Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
mich hatte.
In der biologischen Fakultät war es so still wie in einem Pharaonengrab. Alle Türen des Korridors waren geschlossen, und ich hatte bereits sämtliche Studentenzeitungen sowie die Anschläge am schwarzen Brett gelesen, von den Ankündigungen spezieller Gastvorlesungen bis hin zu den Kleinanzeigen, in denen Schreibarbeiten und Nachhilfe angeboten wurden. Und zwar zweimal.
Zum tausendsten Mal sah ich auf die Uhr. Es war zwölf Minuten nach neun. Verdammt. Bailey müßte längst hier sein, denn sein Seminar war um neun Uhr zu Ende gegangen. Zumindest hatte mir das seine Sekretärin gesagt. Ich stand auf und ging auf und ab. Wer wartet, muß sich bewegen. Neun Uhr vierzehn. Verdammt.
Um halb zehn gab ich auf. Gerade als ich meine Handtasche nahm und gehen wollte, hörte ich, wie irgendwo außer Sichtweite eine Tür geöffnet wurde. Einen Augenblick später kam ein Mann um die Ecke, der einen großen Stapel Hefte trug. Seine Jacke sah aus, als wäre sie Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Irland gestrickt worden. Ich schätzte ihn auf Anfang vierzig.
Der Mann sah mich und blieb stehen. Als ich mich vorstellen wollte, glitt eines der Hefte vom Stapel und fiel zu Boden. Wir beide bückten uns gleichzeitig, was aber keine so gute Idee war, denn nun rutschten ihm auch die restlichen Hefte aus der Hand und lagen verstreut wie Konfetti auf dem Boden des Korridors. Es dauerte einige Zeit, bis wir sie alle eingesammelt und wieder auf einen Stapel getan hatten. Dann schloß Parker Bailey sein Büro auf und legte die Hefte auf den Schreibtisch.
»Tut mir leid«, sagte er mit starkem Akzent auf französisch. »Das war –«
»Kein Problem«, antwortete ich auf englisch. »Ich habe Sie wohl erschreckt.«
»Ja. Nein. Ich hätte zweimal gehen sollen. Aber so was passiert mir ziemlich oft.«
Sein Englisch klang nicht amerikanisch.
»Sind das die Hefte Ihrer Studenten?«
»Ja. Ich habe gerade ethologische Methodologie unterrichtet.«
Baileys Gesicht wies alle Schattierungen eines Sonnenuntergangs über den Oyster Banks auf. Seine Stirn war blaßrosa, die Wangen waren himbeerrot, die Haare gelb wie eine Vanillewaffel und Schnurrbart und Wimpern bernsteinfarben. Er sah aus wie ein Mann, der rasch einen Sonnenbrand bekommt.
»Klingt interessant.«
»Ich wünschte, meine Studenten würden Ihre Auffassung teilen. Kann ich Ihnen irgendwie –«
»Mein Name ist Tempe Brennan«, sagte ich, während ich eine Visitenkarte aus meiner Handtasche kramte. »Ihre Sekretärin hat mir gesagt, daß ich sie nach dem Seminar sprechen könnte.«
Während er meine Karte betrachtete, erklärte ich ihm, weshalb ich hier war.
»Ja, ich erinnere mich. Der Verlust dieses Affen hat mich damals wirklich geärgert. Ich war, ehrlich gesagt, stinksauer.« Er hielt inne und fragte unvermittelt: »Aber wollen Sie sich nicht setzen?«
Ohne meine Antwort abzuwarten, nahm er eine Reihe von Dingen von einem mit grünem Vinyl bezogenen Stuhl und legte sie daneben auf den Boden. Im Vergleich mit seinem winzigen Büro war das meine ein wahres Footballstadion.
Jeder Quadratzentimeter freie Wand zwischen den Bücherregalen war mit Bildern von Tieren zugepflastert. Stichlinge, Perlhühner, Seidenäffchen, Warzenschweine. Sogar ein Bild von einem Erdferkel war dabei. Alle Stufen des Linnéschen Natursystems waren berücksichtigt worden. Parker Baileys Büro erinnerte mich an das eines Theaterimpresarios, der Bilder von berühmten Schauspielern wie Trophäen aufgehängt hat. Der einzige Unterschied bestand darin, daß die Photos hier nicht signiert waren.
Nachdem ich in dem eben freigemachten Besucherstuhl Platz genommen hatte, setzte Bailey sich hinter seinen Schreibtisch und legte die Füße auf eine offenstehende Schublade.
»Ja, ich war wirklich sauer«, wiederholte er und wechselte dann abrupt das Thema. »Und Sie sind Anthropologin?«
»Ja.«
»Haben Sie viel mit Menschenaffen zu tun?«
»Nein, jetzt nicht mehr. Ich arbeite an der anthropologischen Fakultät der University of North Carolina in Charlotte. Ab und zu gebe ich noch einen Kurs über das Verhalten von Menschenaffen, aber ansonsten habe ich mit diesem Gebiet nichts mehr zu tun. Dazu bin ich viel zu sehr in meiner gerichtsmedizinischen Arbeit eingespannt.«
»Ach ja, hier steht’s ja«, meinte er mit einem Blick auf meine Karte. »Und was haben Sie früher mit Affen zu tun gehabt?«
Ich fragte mich, wer hier von wem etwas wissen wollte. »Ich interessierte mich für
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