Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Resignation und Verzweiflung hautnah erlebt, die auch aus diesen Bildern sprach.
Als nächstes breitete ich die Tatortphotos aus, obwohl ich schon wußte, was ich auf ihnen sehen würde. Bei Pitre waren es der Garten, das Schlafzimmer, die Leiche; bei Gautier die U-Bahnstation, ein Gebüsch, die Leiche. Pitre war fast der Kopf abgeschnitten worden, und Gautier hatte der Täter nicht nur die Kehle aufgeschlitzt, sondern auch das rechte Auge zu einem glibbrigen Brei zerstochen. Die Brutalität der Verstümmelungen war es, weshalb die beiden Fälle in unsere Untersuchung mit einbezogen worden waren.
Ich las die Autopsie- und Polizeiberichte, die toxikologischen Befunde und die Zusammenfassung des ermittelnden Beamten. Die relevanten Einzelheiten notierte ich mir in eine einfache Tabelle. Es waren nicht viele.
Während ich arbeitete, hörte ich, wie die anderen im Raum herumgingen, mit Stühlen rückten und miteinander sprachen, aber ich schenkte ihnen keine Beachtung. Als ich die Akten wieder schloß, war es schon nach fünf, und alle bis auf Ryan waren gegangen. Ich blickte auf und bemerkte, daß er mich beobachtet hatte.
»Wollen Sie mit mir zu den Zigeunern gehen?«
»Wie bitte?«
»Ich dachte, Sie mögen Jazz.«
»Stimmt, aber das Festival ist schon vorbei, Ryan.« Wer hatte ihm das wohl erzählt? Und sollte ich seine Frage als private Einladung verstehen?
»Trotzdem gibt es hier in der Stadt immer guten Jazz. Heute spielen Les Gitanes im Old Port. Eine tolle Gruppe.«
»Ich glaube eher nicht, Ryan.« Ich hatte es mir schon früher überlegt, wie ich in einer solchen Situation reagieren sollte. Deshalb lehnte ich ab. Jetzt war nicht die richtige Zeit für sowas. Erst mußte der Fall abgeschlossen, mußte das Monstrum gefaßt sein.
»Verstehe.« Da war er wieder, dieser elektrisierende Blick. »Aber Sie müssen etwas essen.«
Das stimmte. Und zwar würde ich mir daheim alleine irgend etwas auftauen. Keine allzu verlockende Aussicht. Und trotzdem. Ich mußte Ryans Angebot ausschlagen. Sonst würde Claudel gleich wieder irgendeine Inkorrektheit meinerseits wittern.
»Das ist, glaube ich, keine so gute Id…«
»Wir könnten ja irgendwo eine Pizza essen und die Fälle in Ruhe besprechen.«
»Streng beruflich natürlich.«
» Certainement .«
Wenn er meinte…
Aber wollte ich eigentlich die Fälle mit ihm durchgehen? Natürlich. Irgend etwas war mit den beiden neuen, die ich mir eben angesehen hatte, nicht in Ordnung. Außerdem war ich neugierig, was es mit der Sonderkommission wirklich auf sich hatte. Vorhin hatte Ryan uns die offizielle Version mitgeteilt, aber was steckte tatsächlich dahinter? Gab es da gewisse Aspekte, die ich wissen, gab es Personen, denen ich besser aus dem Weg gehen sollte? Würden die anderen so eine Gelegenheit ausschlagen? Bestimmt nicht.
»Okay, Ryan. Wo wollen wir hingehen?«
»Zu Angela’s?«
Das war in der Nähe meiner Wohnung. Ich dachte an meinen frühmorgendlichen Anruf bei Ryan und an die »Freundin«, bei der er gewesen war. Sei nicht paranoid, Brennan. Der Mann hat Lust auf Pizza und weiß, daß du deinen Wagen zu Hause abstellen kannst.
»Ist das für Sie denn okay?«
»Liegt auf dem Weg.«
Auf dem Weg zu was? Ich fragte ihn nicht.
»Schön. Dann treffen wir uns…«, ich sah auf meine Uhr, »… in dreißig Minuten im Lokal. In Ordnung?«
Ich fuhr kurz noch zu Hause vorbei, gab Birdie sein Fressen und vermied es, in den Spiegel zu schauen. Kein Frisieren, kein Make-up. Das war ein Geschäftsessen.
Um viertel nach sechs saßen Ryan und ich vor Bier und Cola Light und warteten auf eine Gemüsepizza deluxe, die auf Ryans Hälfte keinen Ziegenkäse hatte.
»Sie machen einen Fehler«, sagte ich.
»Ich mag das Zeug nicht.«
»Harte Worte.«
»Ich weiß, was mir gut tut.«
Nachdem wir noch eine Weile über belanglose Dinge geplaudert hatten, wechselte ich das Thema. »Erzählen Sie mir doch von den beiden neuen Fällen. Warum haben Sie sie ausgewählt?«
»Patineau wollte, daß ich mir alle ungelösten Mordfälle der SQ seit dem Jahr 85 vornehme, die einem bestimmten Profil entsprechen. Dieses Profil ist in etwa das, das Sie erarbeitet haben. Weibliche Opfer, extreme Brutalität. Verstümmelung. Claudel hat die Fälle der CUM durchgesehen, und die Polizeipräsidien der Umlandgemeinden haben dasselbe gemacht. Bisher haben wir nur diese beiden Fälle gefunden.«
»Hat sich die Suche auf die Provinz Quebec beschränkt?«
»Nicht ganz.«
Wir schwiegen,
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