Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Geldautomaten. Drei zusammengeknüllte Blätter Papier.
Ich faltete das erste Blatt auseinander. Es war eine Seite von einem gelben Block, auf der ich Gabbys Handschrift erkennen konnte.
»Es tut mir leid, aber ich komme damit nicht mehr zurecht. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich…« Die Schrift brach mitten im Satz ab. Hätte das eine Nachricht an mich werden sollen?
Ich entfaltete das zweite Blatt.
»Ich werde deinen Belästigungen nicht nachgeben. Du bist ein Ärgernis, das…«
Wieder hatte sie aufgehört, ohne den Satz zu vollenden. Oder war sie gestört worden? Was hatte Gabby sagen wollen? Und wem?
Das dritte Blatt war größer und nicht gelb, sondern weiß. Als ich es auseinanderfaltete, fuhr mir die Angst in alle Glieder und löste die unfreundlichen Gefühle, die ich gegenüber Gabby gehegt hatte, sofort in Luft auf. Mit zitternden Händen strich ich das Papier auf der Tischplatte glatt und starrte darauf.
Was ich sah, war eine Bleistiftzeichnung, in deren Mitte ich ganz klar eine weibliche Gestalt erkannte. Ihre Brüste und Genitalien waren bis ins kleinste Detail genau ausgeführt, während der Leib und die Gliedmaßen nur flüchtig hinskizziert waren. Der Kopf war ein längliches Oval mit angedeuteten Gesichtszügen. Der Unterleib der Frau war geöffnet, und die herausgezogenen Gedärme wanden sich in einem Kreis um die gesamte Figur. In der linken unteren Ecke des Blattes stand in einer Handschrift, die nicht von Gabby war:
» Every move you make, every step you take …
Wage es nicht, mich zu schneiden.«
30
Ich zitterte am ganzen Körper. Mein Gott, Gabby, auf was hast du dich da eingelassen? Und wo bist du? Ich betrachtete das Durcheinander im Gästezimmer. War es das normale Gabby-Chaos oder ein Anzeichen für eine überstürzte Flucht?
Ich las die beiden ersten Zettel noch einmal. Wen hatte sie damit gemeint? Mich? Ihren Verfolger? Was würde sie sich nicht verzeihen? Und wer war das Ärgernis? Ich sah mir abermals die Zeichnung an und hatte dasselbe Gefühl, das ich beim Anblick der Röntgenaufnahmen von Margaret Adkins gehabt hatte. Dunkle Vorahnungen. Nein! Nicht Gabby!
Beruhige dich, Brennan. Und denk nach!
Ich rannte zum Telefon und rief in Gabbys Wohnung und bei der Universität an. Einmal Anrufbeantworter, einmal Voice Mail. Das war es, was ich am elektronischen Zeitalter so liebte.
Denk nach!
Wo wohnten Gabbys Eltern? In Trois Rivières? Ich rief die Auskunft an. Es gab dort nur einen Macaulay. Vorname Neal. Als ich anrief, war eine alte Frau dran, die Französisch sprach. Gabbys Mutter. Schön, von Ihnen zu hören, Tempe. Wie geht es Ihnen? Nein, ich habe schon seit einigen Wochen nicht mehr mit Gabriella gesprochen, aber das ist bei ihr nichts Ungewöhnliches. Die jungen Leute haben alle immer so viel zu tun. Stimmt denn etwas nicht? Nein, nein, alles in Ordnung, Mrs. Macaulay. Und ja, ich schaue bald mal vorbei.
Was jetzt? Gabbys momentane Freunde kannte ich nicht.
Sollte ich Ryan anrufen?
Nein. Der Mann ist doch nicht dein persönlicher Schutzengel. Und was solltest du ihm auch erzählen?
Langsam. Beruhige dich. Und denk nach. Ich holte mir eine Cola light aus dem Kühlschrank. Reagierte ich zu heftig? Ich ging zurück ins Gästezimmer und sah mir noch einmal die Zeichnung an. Konnte man auf so etwas überhaupt zu heftig reagieren? Ich suchte mir in meinem Adreßbuch eine Telefonnummer heraus und wählte sie.
»Hallo?«
»Hi, J. S. Tempe am Apparat.« Ich hatte Mühe, meine Stimme gleichmäßig klingen zu lassen.
»Gott im Himmel! Zwei Anrufe in einer Woche! Gib’s zu, du verzehrst dich nach mir.«
»Mein letzter Anruf ist länger als eine Woche her.«
»Egal. Alles unter einem Monat interpretiere ich als unstillbares Verlangen deinerseits. Was gibt’s?«
»J. S. ich…«
Er bemerkte, daß meine Stimme zitterte, und seine Frotzelei verwandelte sich sofort in echte Anteilnahme.
»Bist du in Ordnung, Tempe? Was ist los?«
»Es geht um die Fälle, von denen ich dir letzte Woche erzählt habe.«
»Was ist passiert? Ich habe das Profil angefertigt, so schnell ich konnte. Ich hoffe, du weißt, daß ich das dir zuliebe getan habe. Ist es denn noch nicht angekommen?«
»Doch. Und es hat mir sehr geholfen. Aufgrund deines Profils haben sie sogar eine Sonderkommission eingesetzt. So weit ist alles in Ordnung.«
Ich war mir nicht sicher, wie ich ihm von meinen Sorgen wegen Gabby erzählen sollte. Ich wollte seine Freundschaft nicht über Gebühr
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