Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
des Mannes zu sehen, aber die Entfernung war zu groß.
Hätte ich St. Jacques überhaupt wiedererkannt? Ich bezweifelte es. Das Photo war zu unscharf, und der Mann in der Wohnung war viel zu rasch an mir vorbeigerannt.
Julie und ihr Begleiter berührten sich nicht und sprachen auch nicht miteinander. Sie sahen sich nicht um und schlugen zunächst denselben Weg ein, auf dem Julie und ich hergekommen waren. An der Rue Ste. Catherine gingen sie allerdings nicht nach Westen, sondern weiter nach Süden. Ich folgte ihnen im Abstand von einem halben Block, horchte bei jedem noch so leisen Geräusch auf und hatte ständig Angst davor, daß die beiden sich umdrehten und mich entdeckten. Hier gab es nichts, wohinter ich mich hätte verstecken oder womit ich mich hätte tarnen können. Kein Schaufenster, um interessiert hineinzusehen, keine Hauseingänge, um rasch darin zu verschwinden. Ich hätte eigentlich nur weitergehen und hoffen können, daß ich in eine Seitengasse abbiegen konnte, bevor Julie mich erkannte. Zum Glück drehten sich die beiden nicht um.
Immer tiefer drangen wir ins Labyrinth der Straßen und Gassen ein, die immer leerer und dunkler wurden. Nur einmal kamen uns zwei Männer entgegen, die sich mit lauten Stimmen stritten. Ich hoffte inständig, daß Julie und ihr Freier den Männern nicht hinterhersehen würden. Sie taten es nicht, sondern gingen um eine weitere Ecke. Ich beschleunigte meine Schritte, denn ich fürchtete, sie zu verlieren.
Meine Befürchtung war berechtigt gewesen, denn als ich um die Ecke gebogen war, sah ich nichts als die leere, stille Straße.
Mist!
Ich besah mir die Gebäude auf beiden Seiten, suchte jede eiserne Treppe, jeden Eingang ab. Nichts. Keine Spur von Julie oder dem Mann.
Verdammt!
Wütend lief ich den Gehsteig entlang und war schon fast an der nächsten Ecke, als sich im Hochparterre eines Hauses rechts von mir eine Balkontür öffnete und Julies Stammkunde ans rostige Eisengeländer trat. Der Mann stand nur etwas mehr als fünf Meter von mir entfernt und drehte mir den Rücken zu, aber ich erkannte ihn an seinem Sweatshirt. Ich blieb wie angewurzelt stehen und war weder zu einem klaren Gedanken noch zu irgendeiner Reaktion fähig.
Der Mann zog geräuschvoll einen Klumpen Rotz hoch und spuckte ihn in hohem Bogen auf das Pflaster. Dann fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund, trat wieder ins Zimmer und schloß die Balkontür, ohne mich gesehen zu haben.
Ich stand mit weichen Knien da und war noch immer unfähig, mich zu bewegen.
Dieses Weglaufen vorhin war echt eine tolle Leistung, Brennan. Wirklich unauffällig. Vielleicht solltest du das nächste Mal noch zusätzlich eine Leuchtkugel abfeuern und eine Sirene heulen lassen.
Das Gebäude, in das der Mann verschwunden war, stand in einer windschiefen Reihe, die so aussah, als würden sich die Häuser gegenseitig aneinander festhalten. Nahm man eines davon heraus, würden die anderen vermutlich zusammenbrechen. Ein Schild verkündete, daß das Haus Le Saint Vitus hieß, und daß man dort Chambres mieten könne. Fremdenzimmer. Na toll.
War das sein Zuhause oder lediglich eine Absteige?
Wieder einmal suchte ich nach einem Ort, an dem ich mich verstecken konnte, und wieder einmal fand ich eine dunkle Lücke zwischen zwei Häusern. Vielleicht hatte ich ja Glück und lernte aus meinen Fehlern.
Ich atmete tief durch und begab mich in die Dunkelheit dieses Durchgangs. Es war ein Gefühl, als müßte ich in einen Müllcontainer kriechen. Es war eng und warm und stank fürchterlich nach Urin und verrotteten Dingen.
Die Zeit verging schleppend langsam. Meine Augen blieben ständig auf das St. Vitus geheftet, aber meine Gedanken streiften hinauf bis zur Milchstraße. Ich dachte an Katy. Ich dachte an Gabby. Ich dachte an den Heiligen Vitus, wer immer das auch sein mochte. Was würde er wohl dazu sagen, daß dieses Rattenloch da drüben seinen Namen trug? Nannte man ihn nicht auch St. Veit? Gab es nicht eine St.-Veits-Krankheit? Oder ein St.-Veits-Feuer?
Bei St. Veit fiel mir St. Jacques ein. Das Photo von dem Geldautomaten war so schlecht, daß man das Gesicht darauf wirklich nicht erkennen konnte. Der alte Mann vor dem Laden hatte recht gehabt. Nicht einmal die eigene Mutter würde einen auf einem solchen Bild erkennen. Außerdem hätte er sich inzwischen längst die Haare anders schneiden oder sich einen Bart wachsen lassen können. Vielleicht trug er ja auch eine Brille.
Ich dachte an die Inkas, die ein
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