Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Lachen. »Deshalb bin ich… deshalb war ich heute abend unterwegs.«
»Ihre Tochter?«
Ich nickte.
»Hat sich nicht gerade die beste Zeit ausgesucht.«
»Ich dachte, ich könnte vielleicht etwas herausfinden. Ich hatte… aber das ist ja jetzt nicht mehr wichtig.«
Ein paar Sekunden lang sprach keiner von uns ein Wort.
»Ich bin froh, daß es vorbei ist«, sagte Ryan, und der Ärger war nun gänzlich aus seiner Stimme verschwunden. Er stand auf. »Soll ich nochmal bei Ihnen vorbeikommen, wenn ich mit ihm gesprochen habe? Es könnte allerdings ziemlich spät werden.«
Obwohl ich mich wirklich miserabel fühlte, wußte ich genau, daß ich erst dann würde schlafen können, wenn ich wußte, was Sache war. Wer war dieser Tanguay? Was würde die Polizei in seiner Hütte finden? War Gabby dort gestorben? Oder Grace Damas? Oder hatte er seine Opfer als Leichen dort hingebracht und sie zerstückelt und verpackt?
»Ja, bitte. Kommen Sie vorbei.«
Erst als er schon fort war, fiel mir ein, daß ich ihm noch gar nicht von den Handschuhen erzählt hatte. Ich rief noch einmal bei Pete an. Obwohl Tanguay verhaftet worden war, hatte ich immer noch ein ungutes Gefühl und wollte nicht, daß Katy auch nur in die Nähe von Montreal kam. Vielleicht sollte ich sogar selbst nach Süden fahren.
Diesmal bekam ich Pete an den Apparat. Er erzählte mir, daß Katy vor ein paar Tagen bei ihm losgefahren sei. In Richtung New York. Ihm hatte sie gesagt, ich hätte ihr diese Reise vorgeschlagen, womit sie ja nicht unrecht hatte, und ihre Pläne gutgeheißen, was wiederum nicht so ganz der Wahrheit entsprach. Er wußte nicht so recht, wann sie wo sein wollte. Typisch. Katy war mit Freunden von der Universität unterwegs, die ihre Eltern in Washington beziehungsweise New York besuchten. Katy wollte sich erst die beiden Städte ansehen und dann alleine nach Montreal weiterreisen. Pete fand den Plan ganz in Ordnung und war sich sicher, daß sie mich demnächst anrufen würde.
Ich wollte ihm von Gabby und all den ändern Dingen erzählen, die ich in letzter Zeit durchgemacht hatte, aber ich konnte es nicht. Noch nicht. Gottseidank war ja der Alptraum jetzt vorbei, und außerdem hatte Pete es schon wieder eilig, an seinen Schreibtisch zu kommen. Es täte ihm leid, sagte er, aber er müsse dringend etwas für morgen vorbereiten. Das war nichts Neues für mich.
Weil ich mich sogar zu krank und schwach fühlte, um ein Bad zu nehmen, saß ich stundenlang in eine Decke gehüllt auf dem Sofa, starrte in meinen leeren Kamin und wünschte, ich hätte einen Menschen, der mir eine Suppe kochte, mir über die Stirn strich und mir sagte, daß es mir bald wieder gut gehen würde. Ein paarmal döste ich ein und hatte wirre Träume, während sich mikroskopisch kleine Wesen in meiner Blutbahn vermehrten.
Um viertel nach eins klingelte Ryan an der Tür.
»Mein Gott, Brennan, Sie sehen schrecklich aus.«
»Danke für das Kompliment«, sagte ich und wickelte meine Decke fester um mich. »Ich glaube, ich kriege eine Erkältung.«
»Dann lassen Sie uns doch lieber morgen miteinander reden.«
»Auf gar keinen Fall.«
Er warf mir einen merkwürdigen Blick zu und folgte mir in die Wohnung, wo er sein Jackett über einen Sessel warf und sich setzte.
»Sein Name ist Jean Pierre Tanguay. Achtundzwanzig Jahre alt. Ein Einheimischer der in Shawinigan aufwuchs. Nie verheiratet, keine Kinder. Er hat eine Schwester, die in Arkansas lebt. Seine Mutter starb, als er neun Jahre alt war. Offenbar hat er sie gehaßt. Der Vater war Stukkateur und hat die beiden Kinder praktisch alleine großgezogen. Er starb bei einem Autounfall, als Tanguay im College war. Das hat ihm anscheinend einen ziemlichen Schlag versetzt. Er brach die Schule ab, wohnte eine Weile bei seiner Schwester und zog dann in den Vereinigten Staaten herum. Und jetzt kommt’s: Als er in den Südstaaten war, fühlte er sich auf einmal von Gott berufen. Er wollte Jesuit werden, schaffte aber nicht die Aufnahmeprüfung. Anscheinend sprach man ihm die Eignung zum Priester ab. Jedenfalls tauchte er 1988 wieder in Quebec auf und schaffte es, daß er im Bishops College wieder aufgenommen wurde. Eineinhalb Jahre später machte er dort seinen Abschluß.«
»Dann war er also seit 88 hier in der Gegend?«
»Ja.«
»Damit wäre er etwa zu der Zeit hier angekommen, als Pitre und Gautier ermordet wurden.«
Ryan nickte. »Und seitdem ist er nicht mehr weg gewesen.«
Ich mußte schlucken, bevor ich meine nächste
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