Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Frage stellen konnte.
»Wie hat er das mit den Tieren erklärt?«
»Damit, daß er Biologielehrer ist und Sammlungen für seinen Unterricht herstellt. Er kocht die Kadaver aus und setzt die Knochen zu Modellen zusammen. Das stimmt. Wir haben es nachgeprüft.«
»Das würde die vielen Anatomiebücher erklären.«
»Möglicherweise.«
»Und wo hat er die Tiere her?«
»Von der Straße. Sie wurden überfahren.«
»Mein Gott, dann hatte Bertrand ja recht.« Ich konnte mir Tanguay direkt vorstellen, wie er nachts herumschlich, tote Tiere von den Straßen klaubte und sie in Plastiksäcken nach Hause schleppte.
»Hat er jemals in einer Metzgerei gearbeitet?«
»Das hat er nicht gesagt. Warum?«
»Was hat Claudel bei seinen Arbeitskollegen in Erfahrung bringen können?«
»Nichts, was wir nicht ohnehin schon wußten. Er ist ein Einzelgänger, unterrichtet seine Schüler und verschwindet. Keiner seiner Kollegen konnte viel über ihn erzählen. Allerdings ist niemand besonders auskunftsfreudig, wenn er spät in der Nacht aus dem Bett geklingelt wird.«
»Mathieus Großmutter hat Tanguay eigentlich ganz richtig eingeschätzt.«
»Seine Schwester sagt, daß er nie viel Kontakt mit anderen Menschen gehabt hat. Aber sie ist neun Jahre älter als er und kann sich nicht mehr gut erinnern, wie er als Kind war. Aber eine interessante Information hatte sie dennoch für uns.«
»Ja?«
Ryan lächelte. »Tanguay ist impotent.«
»Hat die Schwester das von sich aus erzählt?«
»Sie dachte, damit seine Menschenscheu erklären zu können. Die Schwester hält ihn für harmlos und glaubt, daß er lediglich an zu geringer Selbstachtung leidet. Sie ist ein Fan von Selbsthilfebüchern. Hat den ganzen Psychojargon drauf.«
Ich gab keine Antwort. Vor meinem geistigen Auge sah ich Zeilen aus zwei Autopsieberichten.
»Das mit der Impotenz erklärt vielleicht, daß wir bei Adkins und Morisette-Champoux kein Sperma gefunden haben.«
»Bingo.«
»Und wie wurde er impotent?«
»Ein Geburtsfehler und eine Sportverletzung sind daran schuld. Er wurde mit einem Hoden geboren, und den anderen hat er bei einem Footballspiel verloren. Einer der anderen Spieler hatte einen Kugelschreiber im Trikot, und den bekam Tanguay bei einem Tackling in sein Ei gespießt. Voilà, und schon war es mit seiner Zeugungsfähigkeit vorbei.«
»Und deshalb lebt er jetzt wie ein Einsiedler.«
»Hey, vielleicht hat Schwesterchen gar nicht so unrecht.«
»Vielleicht erklärt das auch seine schwache Wirkung auf Frauen«, sagte ich und dachte an Jewels und Julies Kommentare.
»Ebenso wie auf alle anderen Leute.«
»Ist es nicht merkwürdig, daß er ausgerechnet Lehrer geworden ist?« fragte Ryan. »Warum hat er einen Beruf gewählt, bei dem er es ständig mit vielen Menschen zu tun hat? Wenn man sich wirklich minderwertig fühlt, dann sucht man sich doch eher einen Job, bei dem man alleine ist. So was wie Programmierer oder Laborant.«
»Ich bin zwar keine Psychologin, aber ich könnte mir vorstellen, daß der Lehrerberuf genau das Richtige für ihn ist. Dabei hat er es schließlich nicht mit Gleichberechtigten zu tun, sondern mit Kindern, denen er Befehle erteilen kann. Das Klassenzimmer ist für ihn eine Art kleines Königreich, in dem er die Macht hat. Die Schüler müssen tun, was er sagt, und dürfen sich nicht über ihn lustig machen.«
»Zumindest nicht, wenn er es mitbekommt.«
»Diese Machtausübung tagsüber könnte für ihn das perfekte Gegengewicht zu seinen perversen nächtlichen Phantasien sein. Und darüber hinaus hat er vielleicht sogar Gelegenheit zum Voyeurismus und zu körperlichem Kontakt mit den Schülerinnen«, gab ich zu bedenken.
»Stimmt.«
Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander, während Ryans Augen so unruhig durch mein Wohnzimmer glitten wie am Samstag durch Tanguays Wohnung. Er sah erschöpft aus.
»Ich schätze, der Personenschutz für mich ist jetzt wohl nicht mehr nötig«, sagte ich.
»Stimmt«, sagte er und stand auf.
Ich brachte ihn zur Tür.
»Was haben Sie für einen Eindruck von ihm, Ryan?«
Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort und wählte seine Worte sorgfältig.
»Er behauptet, daß er so unschuldig sei wie ein neugeborenes Lamm. Aber er ist furchtbar nervös, und deshalb glaube ich, daß er etwas zu verbergen hat. Morgen wissen wir, was es mit seiner Hütte draußen auf dem Land auf sich hat. Wenn wir ihn damit und mit allem anderen konfrontieren, was wir gegen ihn in der Hand haben, wird er
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