Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
was ich zu tun hatte. Ich lieh mir von meiner Nachbarin ihren Wagen aus und verließ damit unbemerkt von den Polizisten vor meinem Haus die Tiefgarage. Im Gegensatz zum letzten Mal hatte die Boucherie St. Dominique jetzt geöffnet, und die Schaufenster, an denen immer noch dieselben Plakate hingen, waren hell erleuchtet. Es war nur eine einzige Kundin im Laden, eine alte Frau mit aufgedunsenem Gesicht, die langsam an der Theke entlang ging und schließlich auf ein Kaninchen deutete, dessen kleiner, steifer Körper mich an Tanguays Tierpfoten erinnerte. Und an den Affen Alsa.
Ich wartete, bis die Frau den Laden verlassen hatte. Dann trat ich auf den Mann hinter der Theke zu. Er hatte ein kantiges Gesicht mit groben Zügen. Die Arme, die aus dem T-Shirt herausschauten, wirkten im Gegensatz dazu erstaunlich dünn und sehnig. Der Mann trug eine weiße Schürze mit Blutflecken, die aussahen wie Blütenblätter auf einer leinenen Tischdecke.
»Bonjour.«
»Bonjour.«
»Ist nicht viel los heute, was?«
»Hier ist am Abend nie viel los.« Sein Englisch hatte denselben Akzent wie das von Monsieur Damas.
Ich konnte hören, wie im Nebenraum jemand mit Werkzeugen klapperte.
»Ich untersuche den Mord an Grace Damas«, sagte ich und zeigte dem Mann meinen Dienstausweis. »Dazu würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
Der Mann starrte mich an. Im Nebenraum wurde ein Wasserhahn auf- und wieder zugedreht.
»Sind Sie der Besitzer des Ladens?«
Er nickte.
»Und Sie heißen?«
»Plevritis.«
»Mr. Plevritis, Grace Damas hat hier bei Ihnen gearbeitet, nicht wahr?«
»Wer?«
»Grace Damas. Sie kommt aus derselben Pfarrei wie Sie. St. Demetrius.«
Plevritis verschränkte die dünnen Arme vor der Brust und nickte.
»Und wann war das?«
»Vor etwa drei, vier Jahren. Genau weiß ich es nicht mehr. Ich hatte seither viele Aushilfen.«
»Hat Grace Damas von sich aus aufgehört zu arbeiten?«
»Ja, und zwar von einem Tag auf den anderen.«
»Warum denn das?«
»Keine Ahnung. Sie war nicht die Einzige.«
»Kam sie Ihnen irgendwie unglücklich, durcheinander oder nervös vor?«
»Sehe ich etwa aus wie Sigmund Freud?«
»Hatte sie vielleicht Freunde hier? Jemanden, dem sie besonders nahestand?«
Monsieur Plevritis’ Augen blickten vielsagend in die meinen, und ein Grinsen zog seine Mundwinkel nach oben. »Nahestand?« wiederholte er mit einer Stimme, die so glitschig war wie Motoröl. Ich hielt seinem Blick stand und lächelte nicht.
Das Grinsen verschwand, und seine Augen wanderten durch den Raum.
»Hier sind nur ich und mein Bruder, da gibt es niemanden, dem man nahestehen könnte.« Er betonte das Wort wie ein pubertierender Jugendlicher, der einen schmutzigen Witz erzählt.
»Hatte sie manchmal merkwürdige Besucher? Hat sie vielleicht hier im Laden jemand belästigt?«
»Ich tue hier meinen Job, gute Frau, sonst nichts. Ich habe Grace gesagt, was sie zu tun hat, und sie hat es getan. Für ihr Privatleben habe ich mich nicht interessiert.«
»Ich dachte, Sie hätten vielleicht etwas bemerkt…«
»Grace war eine gute Aushilfe, und als sie gekündigt hat, war ich stinksauer. Daß auch ihre Kollegen zur selben Zeit den Job hingeschmissen haben, hat mich damals ganz schön in die Bredouille gebracht, und deshalb war ich echt wütend auf sie. Das gebe ich ganz offen zu. Aber ich bin kein nachtragender Mensch. Als ich später in der Kirche erfuhr, daß sie vermißt wurde, dachte ich zuerst, sie wäre abgehauen. Sie war zwar nicht der Typ dafür, aber ihr Mann kann manchmal ziemlich übel sein. Es tut mir leid, daß sie ermordet wurde, aber, ehrlich gesagt, ich erinnere mich kaum mehr an sie.«
»Was meinen Sie mit ›übel‹?«
Sein Gesichtsausdruck war auf einmal so leer, als wäre ein Visier heruntergeklappt. Er senkte den Blick und kratzte mit dem Daumennagel an einem Fleck auf der Theke herum. »Das müssen Sie schon mit Nikos selber besprechen. Ich mische mich nicht in anderer Leute Angelegenheiten…«
Ich verstand langsam, was Ryan gemeint hatte. Was jetzt? Jetzt mußte ich visuelle Hilfsmittel zum Einsatz bringen. Ich griff in meine Handtasche und holte das Bild von St. Jacques heraus.
»Haben Sie diesen Mann schon mal gesehen?«
Plevritis beugte sich über die Theke. »Wer ist das?«
»Wohnt hier in der Nachbarschaft.«
Er betrachtete das Gesicht aufmerksam. »Das ist nicht gerade ein Meisterphoto.«
»Es wurde mit einer Videokamera aufgenommen.«
»Das ist der Zapruder-Film auch, aber auf
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