Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
extrem negatives Bild seiner eigenen Persönlichkeit, das ihn später daran hinderte, normale soziale Kontakte aufzubauen.
Leos Großmutter bestrafte ihn übermäßig hart, schützte ihn aber vor den Konsequenzen, die seine Taten außerhalb ihres Zuhauses nach sich zogen. Als Leo ein Teenager war, litt er unter einer ernsten Wahrnehmungsverschiebung, gepaart mit einer ausgeprägten Angst vor Kontrollverlust. Er entwickelte ein starkes Sendungsbewußtsein, das, wenn es behindert wurde, in exzessive narzistische Kränkung umschlug.
Leos Verlangen, andere zu beherrschen, führte zusammen mit seiner zunehmenden sozialen Isolation, seiner unterdrückten Liebe und seinem Haß auf die Großmutter dazu, daß er sich in zunehmendem Maße in seine eigene Phantasiewelt zurückzog. Darüber hinaus entwickelte er praktisch alle klassischen Verteidigungsmechanismen. Verdrängung, Repression, Projektion. In emotionaler wie in sozialer Hinsicht war er extrem unreif.«
»Glauben Sie, daß er zu dem Verhalten fähig wäre, das ich Ihnen vorhin geschildert habe?« Ich war erstaunt, wie ruhig jetzt meine Stimme klang, während ich innerlich vor Angst um meine Tochter fast durchdrehte.
»Als ich mit Leo zu tun hatte, waren seine Phantasien ausgesprochen negativ fixiert. Viele von ihnen schlossen gewalttätige Sexualität mit ein.«
Ich hörte, wie sie wieder an ihrer Zigarette zog.
»Meiner Meinung nach ist Leo Fortier ein extrem gefährlicher Mann.«
»Wissen Sie, wo er jetzt wohnt?« fragte ich und konnte das Beben in meiner Stimme nicht mehr unter Kontrolle halten.
»Seit seiner Entlassung habe ich keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt.«
Ich wollte mich schon verabschieden, als mir noch eine Frage einfiel. »Wie ist Leos Mutter eigentlich gestorben?«
»Bei einer illegalen Abtreibung«, antwortete sie.
Nachdem ich aufgelegt hatte, überschlugen sich meine Gedanken. Jetzt hatte ich einen Namen. Leo Fortier hatte mit Grace Damas gearbeitet, hatte Zugang zu Kirchengrundstücken und war extrem gefährlich. Was sollte ich tun?
Ich hörte ein leises Donnergrollen und stellte fest, daß es draußen viel dunkler geworden war. Ich öffnete die Tür zum Garten und sah hinaus. Schwere Wolken hatten sich über der Stadt zusammengezogen. Die Luft roch nach Regen, und der Wind rüttelte bereits am Wipfel der Zypresse neben dem Haus.
Unvermittelt mußte ich an einen meiner allerersten Fälle denken. Nellie Adams war im Alter von fünf Jahren verschwunden. An dem Tag, an dem ich davon in den Nachrichten gehört hatte, war nachts ein heftiges Gewitter niedergegangen. In der Sicherheit meines warmen Bettes hatte ich mich damals gefragt, ob sie wohl gerade allein und verzweifelt durch diesen Sturm irrte. Sechs Wochen später mußte ich sie anhand ihres Schädels und ein paar Bruchstücken ihrer Rippen identifizieren.
Bitte, Katy! Komm zurück!
Hör auf, Brennan! Ruf lieber Ryan an.
Ein Blitz zuckte herunter, gefolgt von krachendem Donner. Ich schloß die Tür und wollte das Licht im Wohnzimmer anschalten. Nichts. Der Zeitschalter, Brennan. Er ist auf sieben Uhr eingestellt.
Ich langte hinter die Couch und drückte auf den Knopf des Zeitschalters. Nichts. Ich tastete mich durch die dunkle Wohnung in die Küche. Auch hier ließ sich kein Licht anknipsen. Ich stolperte den Gang entlang ins Schlafzimmer. Die Zahlen des Weckers leuchteten nicht mehr. Die Wohnung hatte keinen Strom. Ich blieb eine Weile stehen und suchte nach einer Erklärung dafür. Hatte in der Nähe der Blitz eingeschlagen? Hatte der Sturm einen Strommast umgeworfen?
Jetzt erst fiel mir auf, daß es in der Wohnung ungewöhnlich still war. Es fehlten das Summen der Klimaanlage, das Brummen des Kühlschranks, all die Geräusche elektrischer Geräte. Dafür hörte ich das Heulen des Sturms und meinen eigenen Herzschlag. Und noch etwas. Ein leises Klicken wie das einer sich schließenden Tür. War das Birdie? Woher kam das Geräusch? Aus dem Gästezimmer?
Ich ging ans Schlafzimmerfenster und sah hinaus. Die Straßenbeleuchtung war eingeschaltet, und in den Wohnungen am Boulevard de Maisonneuve brannte überall Licht. Ich rannte den Gang entlang zur Tür, die in den Garten führt. Durch den herunterprasselnden Regen sah ich, daß auch die Fenster meiner Nachbarn erleuchtet waren. Nur meine Wohnung hatte keinen Strom! Und dann erinnerte ich mich daran, daß kein Warnton erklungen war, als ich vorhin die Glastür geöffnet hatte. Meine Alarmanlage war ausgefallen!
Ich rannte zum
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