Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Grund zu der Annahme, daß einer Ihrer früheren Patienten in den Fall verwickelt ist.«
»Und?« Die Stimme klang zurückhaltend.
Ich erzählte ihr von der Sonderkommission und fragte sie, was sie mir über Leo Fortier erzählen könne.
»Wie war noch gleich Ihr Name? Dr. Brennan? Passen Sie auf, Dr. Brennan, ich kann auf gar keinen Fall am Telefon mit Ihnen über einen meiner Patienten reden. Ohne einen formellen Gerichtsbeschluß würde ich nämlich meine ärztliche Schweigepflicht verletzen.«
Ruhig bleiben, Brennan. Du wußtest doch, daß sie das sagen würde.
»Natürlich. Und den Beschluß bekommen Sie nachgereicht, aber die Sache ist ausgesprochen dringend, und wir können keine Verzögerung hinnehmen. Lassen Sie mich Ihnen auch ohne Gerichtsbeschluß etwas erzählen, Dr. LaPerrière. In dieser Stadt werden Frauen auf furchtbare Weise umgebracht, und zwar von einem Täter, der zu extremer Grausamkeit fähig ist. Wir glauben, daß er einen enormen Haß auf Frauen hat und außerdem über die Intelligenz verfügt, seine Morde bis ins kleinste Detail vorauszuplanen. Und es gibt Anzeichen dafür, daß er in allernächster Zukunft wieder zuschlagen wird.«
Ich schluckte. Mein Hals war ausgetrocknet.
»Leo Fortier ist einer der Verdächtigen, und wir müssen wissen, ob er Ihrer Meinung nach für diese Morde in Frage kommen könnte. Gibt es irgend etwas in seiner Krankengeschichte, das eine solche Annahme rechtfertigen würde. Ich verspreche Ihnen, daß Sie alle richterlichen Beschlüsse nachgeliefert bekommen, die Sie brauchen, aber wenn Sie sich jetzt an etwas erinnern, das uns helfen könnte, dann wäre es vielleicht möglich, den nächsten Mord in letzter Minute zu verhindern.«
In Gedanken zog ich mir eine weitere Decke über den Körper, eine Decke eisig kalter Ruhe. Ich durfte sie nicht merken lassen, daß ich Angst hatte.
»Ich kann trotzdem nicht einfach…«
Schon war es mit der Ruhe vorbei.
»Haben Sie eigentlich Kinder, Dr. Perrière? Ich habe eine Tochter.«
»Wie bitte?« fragte sie in einem Tonfall, der eine Mischung aus Pikiertheit und Erschöpfung war.
»Chantale Trottier war sechzehn Jahre alt. Er hat sie zu Tode geprügelt, zerstückelt und auf eine Müllkippe geworfen.«
»Gott im Himmel.«
Obwohl ich M. C. LaPerrière noch nie gesehen hatte, konnte ich mir anhand ihrer Stimme, die nach blaßgrün gestrichenen Krankenhausgängen und angegrauten Ziegelfassaden klang, genau vorstellen, wie sie aussah: eine Frau mittleren Alters, deren Gesicht von Desillusionierung gezeichnet war. Sie arbeitete für ein System, an das sie schon lange nicht mehr glaubte, ein System, das die Gewalttätigkeit einer immer verrückter werdenden Gesellschaft nicht verstehen, geschweige denn in den Griff bekommen konnte. Frauen, die von mehreren Männern hintereinander vergewaltigt wurden. Bleiche Teenager mit aufgeschnittenen Pulsadern. Verbrühte oder mit Brandwunden von glühenden Zigaretten übersäte Kleinkinder. Foeten, die in blutigen Toilettenschüsseln schwammen. Alte Menschen, die in ihren Wohnungen verhungerten. Frauen mit zerschlagenen Gesichtern und flehenden Augen. Eines Tages hatte M. C. LaPerrière vielleicht einmal geglaubt, mit ihrer Arbeit etwas dagegen tun zu können. Die Realität hatte sie eines Besseren belehrt.
Aber sie hatte einen Eid geschworen. Auf was? Vor wem? Das Dilemma war ihr inzwischen wohl ebenso bewußt, wie es vor vielen Jahren ihr Idealismus gewesen war. Ich hörte, wie sie tief Luft holte.
»Leo Fortier wurde 1988 für sechs Monate hier eingewiesen. Während dieser Zeit habe ich ihn psychiatrisch betreut.«
»Erinnern Sie sich an ihn?«
»Ja.«
Ich wartete mit klopfendem Herzen. Ich hörte das Klicken eines Feuerzeugs und dann ein langes Ausatmen.
»Leo Fortier kam nach Pinel, weil er seine Großmutter mit einer Lampe krankenhausreif geschlagen hatte.« Dr. LaPerrière sprach in kurzen, vorsichtigen Sätzen. »Die alte Frau mußte mit über hundert Stichen genäht werden. Sie weigerte sich, Anzeige gegen ihren Enkel zu erstatten, deshalb wurde Fortier auch nur für sechs Monate eingewiesen. Als diese Zeit abgelaufen war, schlug ich ihm vor, freiwillig länger in Behandlung zu bleiben, aber er lehnte ab.«
Dr. LaPerrière hielt inne, als müsse sie nach den richtigen Worten suchen.
»Leo Fortier war dabei, als seine Mutter starb. Seine Großmutter, die dabei tatenlos zugesehen hatte, nahm den kleinen Leo zu sich und zog ihn auf. Dabei vermittelte sie ihm ein
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