Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
dieses Etablissement verirrten.
»Da«, sagte Gabby, »das ist Monique.«
Monique trug Stiefel aus rotem Vinyl, die bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichten. Ihr Oberkörper steckte in einem schwarzen, bis an den Rand seiner Dehnfähigkeit gespannten Body aus Stretch, unter dem ich die Umrisse ihres Höschen und ihres BHs erahnen konnte. An ihren Ohren baumelten große Plastikringe, die sich knallpink von ihren viel zu schwarzen Haaren abhoben und fast Moniques Schultern berührten. Irgendwie kam mir Monique wie die Karikatur einer Nutte vor.
»Und das ist Candy.«
Gabby deutete auf eine junge Frau in gelben Shorts und Cowboystiefeln, gegen deren Make-up sogar ein Clown ungeschminkt ausgesehen hätte. Die Frau war so jung, daß es fast wehtat. Bis auf die Zigarette und ihre Kriegsbemalung hätte sie meine Tochter sein können. Ich lehnte mich zurück und legte die Hände aufs Lenkrad. Während Gabby mir nach und nach die Nutten zeigte, mußte ich unwillkürlich an Gibbons denken. Ähnlich wie diese Affen gingen die Frauen ständig hin und her und teilten damit den Gehsteig in ein Mosaik von kleinen Territorien auf. Jede versuchte, auf ihrem Gebiet ein Männchen anzulocken und die anderen Weibchen davon fernzuhalten. Die verführerischen Posen, die aufmunternden Gesten und Rufe kamen mir vor wie ein Balzritual der Gattung Homo sapiens. Mit dem einen Unterschied allerdings, daß das Ziel dieses Werbens hier nicht die Vermehrung der Art war.
Als Gabby mit der Aufzählung fertig war, drehte ich mich zu ihr um. Sie schaute in meine Richtung, aber ihre Blicke waren auf etwas gerichtet, das sich hinter mir und vielleicht sogar außerhalb unserer Welt befand.
»Fahren wir.«
Sie sagte es so leise, daß ich es kaum verstand. »Was?«
»Fahr los!«
Ihre Ungeduld erstaunte mich. Eine grobe Bemerkung lag mir schon auf der Zunge, aber dann sah ich den Blick in ihren Augen und hielt den Mund.
Wieder fuhren wir schweigend durch die Nacht. Gabby schien so tief in Gedanken versunken, als wäre sie geistig auf einem anderen Planeten. Als ich jedoch vor ihrem Wohnhaus anhielt, verblüffte sie mich mit einer weiteren Frage.
»Werden sie eigentlich vergewaltigt?«
In Gedanken spulte ich unsere Unterhaltung zurück, aber ich kam nicht drauf, was sie meinte. Wieder einmal war mir der Zusammenhang nicht klar.
»Wer denn?« fragte ich.
»Na, die Frauen.«
Meinte sie die Nutten? Oder die Mordopfer?
»Welche Frauen?«
»Der ganze Mist hängt mir zum Hals heraus!« platzte sie schließlich heraus.
Noch bevor ich etwas erwidern konnte, war sie aus dem Auto gestiegen und an der Treppe. Erst dann spürte ich ihre Heftigkeit wie einen Schlag ins Gesicht.
5
Die nächsten zwei Wochen hörte ich nichts von Gabby. Auch Claudel hatte mich offenbar aus seinem Verteiler gestrichen. Was er über Isabelle Gagnon herausfand, erfuhr ich auf dem Umweg über Pierre LaManche.
Sie hatte bei ihrem Bruder und seinem Freund in einem Arbeiterviertel nordöstlich vom Stadtzentrum gewohnt und als Verkäuferin in der Boutique des Freundes in der Nähe der Rue St. Denis gearbeitet. Der kleine Laden hatte sich auf Schwulen-Mode und die dazugehörigen Accessoires spezialisiert. Er hieß Une Tranche de la Vie, eine Scheibe vom Leben. Der Bruder, von Beruf Bäcker, hatte sich den Namen ausgedacht. Die Scheibe, die seine Schwester vom Leben abbekommen hatte, war ziemlich dünn gewesen.
Isabelle war am Freitag, dem ersten April, verschwunden. Nach Aussagen ihres Bruders hatte sie den Abend zuvor in einer Bar in der Rue St. Denis verbracht, in der sie Stammgast gewesen war. Der Bruder glaubte, gegen zwei Uhr früh gehört zu haben, wie sie heimkam, aber er hatte nicht nachgesehen. Am Morgen des ersten April waren die beiden Männer früh zur Arbeit gegangen. Um vier Uhr nachmittags hätte dann auch Isabelle in der Boutique sein sollen, aber sie war dort nie aufgetaucht. Fünf Wochen später fanden wir ihre Überreste auf dem Gelände des Grande Seminaire.
Eines Nachmittags kam LaManche noch spät zu mir ins Büro, um sich zu erkundigen, ob ich die Untersuchung von Isabelle Gagnons Leiche schon abgeschlossen hätte.
»Sie hatte mehrere Schädelbrüche«, sagte ich. »Deshalb hat die Rekonstruktion so lange gedauert.«
»Oui.«
Ich nahm den Schädel von seinem Korkring.
»Sie hat mindestens drei Schläge erhalten. Das hier war der erste.«
Ich deutete auf einen kleinen, untertassenförmigen Krater, umgeben von einer Reihe von konzentrischen Kreisen,
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