Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
diese uniformierte Flucht aus der Konformität der damaligen Gesellschaft lachen. Als wir das Restaurant verließen, war es schon nach Mitternacht.
Als wir die Rue Prince Arthur entlang gingen, kam Gabby wieder auf die Morde zu sprechen.
»Wie muß man sich den Typen eigentlich vorstellen?«
Ihre Frage überraschte mich.
»Als einen Irren? Oder ganz normal? Sieht man es ihm an oder nicht?«
Meine Begriffsstutzigkeit schien sie zu ärgern.
»Ich meine, ob man den Dreckskerl auf einem Picknick oder in der Kirchengemeinde erkennen würde?«
»Wen? Den Mörder?«
»Ja.«
»Das weiß ich nicht.«
Gabby ließ nicht locker. »Meinst du, daß er ein normales Leben fuhren kann?«
»Ich denke schon. Wenn – was ich nicht sicher weiß – ein und derselbe Mörder die beiden Frauen getötet hat, dann muß er irgendwo unerkannt leben und seine Verbrechen planen. Manche Serienmörder fuhren die Welt ziemlich lange an der Nase herum, bis sie endlich gefaßt werden. Aber das ist alles reine Spekulation. Schließlich bin ich keine Psychologin.«
Wir waren an meinem Auto angelangt. Als ich die Tür aufsperrte, packte Gabby mich plötzlich am Arm. »Ich möchte dir den Kiez zeigen.«
Wieder einmal konnte ich ihren Gedankensprüngen nicht folgen. Ich versuchte mir vorzustellen, was für einen Zusammenhang ihr Vorschlag mit unserem bisherigen Gespräch haben könnte.
»Äh…«
»Das Rotlichtviertel. Den Strich. Mein Projekt. Laß uns nur kurz vorbeifahren, damit ich dir die Mädchen dort zeigen kann.«
Ich blickte ihr ins Gesicht, das im Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos seltsam aussah. Das Licht huschte darüber wie der Strahl einer Taschenlampe und tauchte Gabbys Züge in ein Wechselspiel aus Hell und Dunkel. Gabbys Unternehmungslust wirkte irgendwie ansteckend. Ich schaute auf meine Uhr. Es war zwei Minuten vor halb eins.
»Okay«, sagte ich, obwohl es in Wirklichkeit nicht okay war. Morgen würde ein harter Tag für mich werden. Aber Gabby schien so erpicht auf diesen Ausflug, daß ich es nicht übers Herz brachte, sie zu enttäuschen.
Sie zwängte sich in den Wagen und schob den Beifahrersitz so weit wie möglich nach hinten. Damit gewann sie etwas mehr Raum für ihre langen Beine.
Ein paar Minuten fuhren wir schweigend dahin. Auf Gabbys Anweisungen hin steuerte ich erst ein paar Blocks nach Westen, bis ich in die Rue St. Urbain in südliche Richtung abbog. Wir bewegten uns am äußersten östlichen Rand des Univiertels, einer Mischung aus billigen Studentenbuden und teuren Eigentumswohnungen in renovierten Ziegelbauten aus der Jahrhundertwende. Nach sechs Blocks bog ich nach links in die Rue Ste. Catherine ein. Die Innenstadt lag jetzt hinter uns. Im Rückspiegel konnte ich die Silhouetten des Complexe Desjardins und des Place des Arts erkennen, deren Hochhäuser von zwei verschiedenen Seiten der Innenstadt miteinander zu wetteifern schienen. Zu ihren Füßen lagen der Complexe Guy-Favreau und das Palais des Congrès.
In Montreal geht der Glanz der Innenstadt ziemlich rasch in das heruntergekommene Eastend über, und die Rue Ste. Catherine kennt beide Gesichter der Stadt. Sie beginnt im wohlhabenden Westmount und läuft in südöstlicher Richtung auf den Boulevard St. Laurent zu, der sie in eine östliche und eine westliche Hälfte teilt. In der Innenstadt liegen an der Rue Ste. Catherine das Forum, in dem die Montreal Canadiens ihre Eishockeytriumphe feierten, das Kaufhaus Eatons und das Spectrum, wo viele Rock- und Popkonzerte stattfinden. Nach der Kreuzung mit dem Boulevard St. Laurent aber läßt die Ste. Catherine Büro- und Wohnhäuser, Kongreßzentren, Boutiquen, Restaurants und schicke Single-Bars hinter sich und gehört ab da Nutten und Punks, Drogendealern und Skinheads. In das Rotlichtviertel, das sich vom Boulevard St. Laurent in östlicher Richtung bis zum Schwulenviertel erstreckt, trauen sich Touristen und die Bewohner der Vorstädte höchstens für kurze Besuche hinein. Sie glotzen die Menschen dort an, aber sie vermeiden den Blickkontakt mit ihnen. Vielleicht begaffen sie die andere Seite, um sich ihre eigene Überlegenheit zu bestätigen.
Kurz vor der Kreuzung mit dem Boulevard St. Laurent sagte mir Gabby, daß ich anhalten solle. Ich fand einen Parkplatz direkt vor einem Sexshop und schaltete den Motor ab. Auf der anderen Straßenseite stand eine Gruppe von Frauen vor dem Eingang zum Hotel Granada. Ein Reklameschild pries Chambres an, aber ich bezweifelte, daß sich Touristen in
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