Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Stadien der Entwicklung auf einem Tisch neben Charbonneau. Der Detektive sah sie der Reihe nach an. Beim Betrachten kaute er auf seiner Unterlippe herum.
Ein uniformierter Beamter von der Spurensicherung, der eine Nikon mit Blitzlicht hatte, machte ebenfalls Aufnahmen. Während er um die Leiche herumging, stellte Lisa, unsere neue Autopsieassistentin, einen altmodischen Paravent dahinter. Der weißlackierte, mit verblichenem Stoff bespannte Metallrahmen war ein Überbleibsel aus der Zeit, in der man mit solchen Vorrichtungen Patienten in den großen Bettensälen der Krankenhäuser bei intimen Verrichtungen vor neugierigen Blicken schützte. Den Schirm jetzt hier zu sehen, entbehrte nicht einer bitteren Ironie. Margaret Adkins’ Privatsphäre konnte nicht mehr geschützt werden.
Nach ein paar Bildern stieg der Photograph von seinem Stuhl und blickte LaManche fragend an. Der Pathologe trat an die Leiche heran und deutete auf einen Kratzer an der linken Schulter.
»Haben Sie den?«
Lisa hielt eine rechteckige Karte neben den Kratzer. Auf der Karte standen die LML-Nummer, die Leichennummer und das Datum. Der 23. Juni 1994. Daniel und der Photograph machten Nahaufnahmen von dem Kratzer.
Auf LaManches Anweisung hin rasierte Lisa die Haare rings um die Kopfverletzung, wobei sie mehrmals mit dem Schlauch das Blut wegwaschen mußte. Es waren fünf Wunden, die alle die charakteristischen gezackten Ränder eines Schlages mit einem stumpfen Gegenstand aufwiesen. LaManche maß sie aus und skizzierte sie auf einem Formblatt.
Schließlich sagte LaManche: »Ich glaube, mit dieser Seite sind wir fertig. Drehen Sie sie bitte um.«
Lisa trat vor und versperrte mir einen Augenblick lang die Sicht. Sie zog die Leiche auf die linke Seite des Tisches, rollte sie ein kleines Stück zurück und legte den linken Arm unter den Bauch. Dann drehte sie gemeinsam mit Daniel die Tote auf den Rücken. Ich hörte den gedämpften Schlag, mit dem der Kopf auf den Edelstahl fiel. Lisa hob ihn an, stellte einen Gummiblock unter den Hals und trat zurück.
Bei dem Anblick, der sich mir bot, hatte ich ein Gefühl, als habe jemand jetzt den Verschluß der geschüttelten Limonadenflasche in meiner Brust geöffnet. Die Angst schoß durch meinen Körper wie ein aufspritzender Geysir.
Margaret Adkins’ Leib war vom Brust- bis zum Schambein aufgeschlitzt worden. Es war ein tiefer, unregelmäßiger Schnitt, der die zerfetzten Eingeweide in allen ihren Farben und Formen freigelegt hatte. An seiner tiefsten Stelle, wo der Mörder die inneren Organe zur Seite geschoben hatte, sah ich die glänzende Knochenhaut um die Wirbelsäule.
Ich löste meine Blicke von den grauenvollen Verwüstungen im Unterleib und ließ sie weiter nach oben wandern, wo ich aber auch nichts Tröstliches fand. Das Gesicht der Toten war leicht zur Seite geneigt und hatte eine Stupsnase und ein leicht spitzes Kinn. Margaret Adkins hatte hohe Wangenknochen und viele Sommersproßen gehabt. Jetzt, wo sie tot war, hoben sich die brauen Flecken unnatürlich stark von der bleichen Haut ab und ließen sie wie eine Pipi Langstrumpf mit kurzen, brauen Haaren aussehen. Mit noch einem Unterschied allerdings: Ihr kleiner Elfenmund lachte nicht, sondern stand unnatürlich weit offen. Der Mörder hatte Margaret Adkins die linke Brust abgeschnitten und so in den Mund gestopft, daß die Brustwarze auf der zarten Unterlippe zu liegen kam.
Als ich aufsah, trafen meine Blicke die von LaManche. Die Falten um seine Augen waren tiefer als sonst, und seine unteren Lider zuckten kaum merklich vor Anspannung. Ich sah Trauer in diesen Augen und vielleicht noch etwas anderes, das darüber hinausführte.
LaManche sagte nichts und fuhr mit der Autopsie fort. Dabei wanderte seine Aufmerksamkeit ständig zwischen der Leiche und seinem Klemmbrett hin und her, auf dem er jede Abscheulichkeit bis ins kleinste Detail festhielt. Jede Verletzung, jeden Kratzer trug er gewissenhaft ein, und während er das tat, machten Daniel und der Polizeiphotograph ihre Bilder von der Vorderseite der Leiche. Wir anderen warteten. Charbonneau rauchte eine Zigarette.
Als LaManche mit der äußeren Untersuchung fertig war, kam es mir so vor, als wären Stunden vergangen.
»Bon. Jetzt können Sie sie zum Röntgen bringen.«
Er streifte die Handschuhe ab und setzte sich an den Schreibtisch, wo er sich über das Klemmbrett beugte wie ein alter Mann über seine Briefmarkensammlung.
Lisa und Daniel schoben eine stählerne Rollbahre an
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