Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
einer vergilbten Gardine. Die Fensterscheibe war so schmutzig, daß ich die handgeschriebenen Worte nur mit Mühe entziffern konnte: Chambres à louer. Zimmer zu vermieten. Claudel stellte einen Fuß auf die Türschwelle und drückte den oberen der beiden Klingelknöpfe. Keine Reaktion. Er klingelte noch einmal, und als sich auch dann nichts tat, schlug er mit der Faust gegen die Tür.
»Was soll denn das?« kreischte auf einmal eine Frauenstimme direkt neben meinem Ohr. Ich erschrak so sehr, daß mein Herz mir bis in den Hals schlug.
Ich fuhr herum und sah, daß die Stimme nur wenige Zentimeter links von mir aus einem zweiten Fenster im Erdgeschoß kam. Durch ein Fliegengitter starrte uns ein böses Gesicht an, das seinen Arger nicht zu verbergen suchte.
»Was fällt dir ein, du trou de cul, du schlägst mir ja die Tür kaputt. Die wirst du mir bezahlen!«
»Polizei«, sagte Claudel und ging nicht weiter darauf ein, daß die Frau ihn gerade ein Arschloch genannt hatte.
»Ach ja? Hast du einen Ausweis dabei?«
Claudel hob seine Dienstmarke vor das Fliegengitter. Das Gesicht kam näher, und ich erkannte, daß es stark gerötet war. Die Frau hatte sich ein zitronengelbes Tuch ins Haar gebunden. Aus dem Knoten oben auf ihrem Kopf ragten zwei Stoffzipfel wie gelbe Hasenohren in die Luft. Ohne dieses Tuch und mit zwanzig Kilo weniger hätte die Frau der Ziege auf der Hauswand verblüffend ähnlich gesehen.
»Und? Was wollen Sie hier?« Die Chiffonohren schlappten durch die Luft, als sie zwischen Claudel, Charbonneau und mir hin und her blickte. Weil ich ihr wohl vergleichsweise harmlos vorkam, wandte sie sich an mich.
»Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen«, sagte ich und kam mir dabei vor wie eine Figur aus einem billigen Serienkrimi. Die Worte klangen auf französisch genauso klischeehaft wie auf englisch. Wenigstens hatte ich nicht noch ein »Madame« angefügt.
»Geht es um Jean-Marc?«
»Können wir das nicht drinnen besprechen?« sagte ich und fragte mich, wer wohl Jean-Marc war.
Das Gesicht zögerte und verschwand schließlich. Einen Augenblick später hörten wir, wie mehrere Schlösser aufgesperrt wurden. Eine dicke Frau in einem Hausanzug aus gelbem Polyester öffnete die Tür. An den Unterarmen und am Bauch war der Stoff dunkel vom Schweiß und am Kragen speckig und verdreckt. Die Frau hielt uns die Tür auf und schloß sie hinter uns. Dann drehte sie sich um, watschelte einen engen Gang entlang und verschwand nach links durch eine Tür. Wir folgten ihr im Gänsemarsch, Claudel als erster und ich als letzte. Der Gang roch nach Kohl und altem Fett. Die Temperatur in der Wohnung betrug mindestens fünfunddreißig Grad.
Im winzigen Wohnzimmer, das mit dem schweren, dunklen Mobiliar der zwanziger und dreißiger Jahre vollgestellt war, stank es nach Katzenklo. Nirgendwo war auch nur ein Fleckchen zu sehen, das nicht mit irgendwelchem Nippes zugestellt war. Die Sessel sahen nicht so aus, als seien sie jemals neu bezogen worden. Auf dem billigen, fadenscheinigen Perserteppich lag ein Teppichschoner aus durchsichtigem Vinyl. Die Frau schlurfte zu einem Sessel vor dem Fenster und ließ sich so schwer in die Polster fallen, daß eine Dose Pepsi Light auf dem Fernsehtisch rechts daneben bedrohlich zu schwanken begann. Sie schaute angespannt aus dem Fenster und ich fragte mich, ob sie jemanden erwartete oder ob sie bloß ihre von uns unterbrochene Beobachtung der Nachbarschaft wieder aufnahm.
Charbonneau gab mir das Photo, das ich an die Frau weiterreichte. Sie betrachtete es mit Augen, die wie dunkel glänzende Larven zwischen ihren wohlgepolsterten Lidern hervorblitzten. Als sie uns wieder ansah, wurde ihr bewußt, daß sie mit dem Hinsetzen einen taktischen Fehler gemacht hatte, denn nun mußte sie zu uns aufschauen. Während sie den Hals nach oben reckte, musterten die Larvenäuglein uns nacheinander, und ihre Stimmung schien jetzt eher vorsichtig als feindselig.
»Sie heißen…«, begann Claudel.
»Marie-Eve Rochon. Warum sind Sie hier? Hat Jean-Marc wieder Mist gebaut?«
»Sind Sie die Hausmeisterin?«
»Ich kassiere die Miete für den Hausbesitzer«, antwortete die Frau und rutschte nervös in dem für sie ohnehin viel zu kleinen Sessel herum.
»Kennen Sie den da?« fragte Claudel und deutete auf das Photo.
»Ja und nein. Er wohnt hier, aber ich kenne ihn nicht.«
»Wo?«
»Nummer sechs. Gleich die erste Wohnung im Parterre«, antwortete die Frau und fuchtelte mit ihrem Arm herum,
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