Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
und sein Kollege bahnten sich nun ihrerseits einen Weg in Richtung Rue Ste. Catherine, aber sie waren weit hinter Claudel und Charbonneau.
Dann entdeckte ich auf einmal die orangefarbene Baseballmütze. Sie war nicht weit vor Charbonneau, der an der Rue Ste. Catherine gerade nach Osten abbog und die Mütze wegen der Leute vor ihm nicht sehen konnte. St. Jacques wandte sich nach Westen. So plötzlich, wie ich ihn entdeckt hatte, war er auch schon wieder verschwunden. Ich schrie und fuchtelte mit den Armen, um die Polizisten auf mich aufmerksam zu machen, aber es war vergebens. Claudel sah ich überhaupt nicht mehr, und die anderen drei schauten nicht in meine Richtung.
Ohne lange nachzudenken, sprang ich von dem Betonblock und stürzte mich in die Menge. Sofort umgab mich der Dunst von Schweiß, Sonnenmilch und Bier, der aus den dichtgedrängten Körpern aufstieg. Ich senkte den Kopf und schob mich entschlossen wie ein Bulldozer vorwärts, wobei ich Augenkontakt mit den Leuten vermied und meine gewohnte Höflichkeit weitgehend außer acht ließ. Einige beschimpften mich oder machten anzügliche Bemerkungen.
Unter den Hunderten von Köpfen rings um mich suchte ich St. Jacques’ Baseballmütze, aber es war hoffnungslos. Ich versuchte, die Stelle zu erreichen, wo ich St. Jacques gesehen hatte, und hätte es fast geschafft. Kurz vor der Rue Ste. Catherine packte mich aber jemand von hinten. Eine Hand legte sich um meinen Hals, eine andere zog meinen Pferdeschwanz brutal nach unten. Mein Kinn schoß nach oben, und ich spürte – und hörte – , wie einer meiner Halswirbel knackte. Die Hände zogen mich nach hinten an eine riesige Männerbrust. Ich spürte seinen Schweiß und seine Körperwärme. Sein Mund näherte sich meinem Ohr, und eine säuerliche Wolke, die nach Wein, Zigarettenrauch und Chips stank, waberte mir in die Nase.
»Hey, Tussi, wieso drängelst du denn so?«
Selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte ihm keine Antwort geben können. Mein Schweigen schien ihn noch mehr zu verärgern. Er ließ meinen Hals und meinen Pferdeschwanz los, legte mir beide Hände auf die Schultern und stieß mich so stark nach vorn, daß ich mit voller Wucht an eine Frau krachte, die knappe Shorts und hochhackige Schuhe trug. Als sie laut aufschrie, traten die Leute ringsum einen Schritt zurück. Ich streckte die Hände aus, um mein Gleichgewicht wiederzufinden, aber es war zu spät. Ich knallte mit Stirn und Wange auf den Asphalt. Das Blut hämmerte mir in den Ohren, und ich spürte, wie mir scharfkantige Kieselsteine die Haut aufrissen. Als ich mich aufrappeln wollte, trat mir jemand auf die Finger. Rings um mich sah ich nichts als Füße und Beine. Weil die Leute mich erst bemerkten, wenn sie direkt vor mir waren, konnten sie nicht rechtzeitig anhalten.
Ich rollte mich zur Seite und versuchte erneut, mich mit Händen und Knien nach oben zu drücken, aber Tritte und Kniestöße schleuderten mich immer wieder zu Boden. Niemand blieb stehen, um mich vor den anderen abzuschirmen oder mir auf die Beine zu helfen.
Erst als ich eine laute, wütende Stimme hörte, zog sich die Menge ringsum zurück. Dann erschien eine Hand vor meinem Gesicht, deren Finger sich ungeduldig bewegten. Ich ergriff die Hand und zog mich daran nach oben, wo es heller und die Luft wieder besser war.
Die Hand gehörte Claudel, der mit dem anderen Arm die Menge zurückhielt, bis ich mich ganz aufgerichtet hatte. Ich sah, wie seine Lippen sich bewegten, konnte aber nicht verstehen, was er sagte. Obwohl er, wie üblich, verärgert zu sein schien, war ich noch nie so froh gewesen, sein Gesicht zu sehen. Er hörte auf zu sprechen und schaute mich besorgt von oben bis unten an. Ich hatte starke Abschürfungen an den Knien und Ellenbogen, meine rechte Wange blutete, und das rechte Auge begann schon anzuschwellen. Er ließ meine Hand los und holte aus seiner Hosentasche ein Taschentuch, reichte es mir und deutete auf mein Gesicht. Mit zitternder Hand nahm ich es und entfernte damit, so gut es ging, die Kieselsteine an meiner Wange. Dann faltete ich das Taschentuch und drückte die saubere Seite auf die noch immer blutende Wunde.
Claudel beugte sich zu mir und schrie mir ins Ohr: »Bleiben Sie ganz dicht bei mir!«
Ich nickte. Aber als er begann, sich zum Auto durchzuschlängeln, packte ich ihn am Arm. Er blieb stehen und sah mich fragend an. Als ich vehement den Kopf schüttelte, zog er seine Augenbrauen hoch, was ihn wie eine Imitation von Stan Laurel
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