Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
daß die lockeren Fleischmassen wabbelten wie Wackelpudding.
»Wie heißt er?«
Sie dachte einen Augenblick nach und zupfte dabei gedankenverloren am Knoten ihres Kopftuches. Ich sah, wie ein Schweißtropfen an ihrer Schläfe immer größer wurde und schließlich über ihre Wange nach unten rann. »St. Jacques, glaube ich. Aber diese Typen verwenden ja oft falsche Namen.«
Charbonneau kritzelte in sein Notizbuch.
»Wie lange wohnt er schon hier?«
»Ein Jahr vielleicht. Für hiesige Verhältnisse ist das ziemlich lange. Die meisten Mieter sind Herumtreiber. Aber ich habe ihn nicht oft gesehen. Er ist mal da und mal nicht. Ich kümmere mich nicht darum.« Sie senkte den Blick und verzog den Mund, weil sie merkte, daß ihre Lüge ein wenig zu offensichtlich war. »Ich stelle den Mietern keine Fragen.«
»Verlangen Sie irgendwelche Papiere, wenn jemand eine Wohnung mietet?«
Die Frau atmete hörbar aus und schüttelte langsam den Kopf.
»Bekommt er Besuch?«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich ihn kaum kenne.« Sie schwieg eine Weile. Durch ihr ständiges Herumzupfen waren die Hasenohren nach rechts verrutscht. »Aber ich glaube, daß er meistens alleine ist.«
Charbonneau sah sich um. »Ist seine Wohnung so wie die hier?«
»Meine ist die größte im Haus.« Madame Rochons Mundwinkel zogen sich zusammen, und sie hob kaum wahrnehmbar das Kinn. Selbst auf so eine schäbige Behausung konnte man offenbar stolz sein. »Die anderen Wohnungen sind in Appartements mit Kochplatte und Toilette aufgeteilt worden.«
»Ist er jetzt da?«
Die Frau zuckte mit den Achseln.
Charbonneau klappte sein Notizbuch zu. »Wir müssen mit ihm reden. Gehen wir.«
Madame Rochon schaute ihn erstaunt an. » Moi ?«
»Vielleicht müssen Sie uns die Wohnung aufsperren.«
Sie beugte sich im Sessel nach vorn und wischte die Hände an ihren Oberschenkeln ab. Sie riß die Augen auf und blähte die Nasenflügel. »Das darf ich nicht. Das wäre eine Verletzung der Privatsphäre. Dazu brauchen Sie einen Durchsuchungsbefehl.«
Charbonneau starrte sie durchdringend an und sagte nichts. Claudel ließ einen lauten Seufzer hören, der ebenso enttäuscht wie gelangweilt klang. Das Kondenswasser an der Pepsidose hatte schon eine kleine Pfütze auf dem Fernsehtisch gebildet.
»Okay, okay. Aber es war Ihre Idee«, schnaufte Madame Rochon.
Mit einer Serie von Gewichtsverlagerungen, die mich an das Kreuzen eines Segelbootes erinnerten, gelang es ihr, sich auf dem Sessel nach vorn zu bewegen. Dabei rutschte der Saum ihres Hauskleids höher und höher und gab den Blick auf enorme Massen marmorierten Fleisches frei. Als sie ihren Schwerpunkt endlich an die Kante der Sitzfläche manövriert hatte, stützte sie sich mit beiden Händen an den Armlehnen ab und wuchtete sich hoch.
Sie ging zu einem Schreibtisch an der Wand und brachte nach einigem Wühlen in einer Schublade einen Schlüssel zum Vorschein, den sie nach Prüfung des Anhängers Charbonneau übergab.
»Vielen Dank, Madame. Dann werden wir mal nach dem Rechten sehen.«
Als wir uns zum Gehen wandten, gewann Madame Rochons Neugier doch noch die Oberhand. »Hey, was hat der Kerl denn angestellt?«
»Wir bringen nachher den Schlüssel zurück«, sagte Claudel. Wieder spürte ich, wie jemand uns nachstarrte.
Der Gang hinter der Eingangstür ähnelte dem, den wir soeben verlassen hatten. Rechts und links zweigten Türen ab, und ganz am Ende führte eine steile Treppe in die oberen Stockwerke. Wohnung Nummer sechs war die erste Tür links. In dem Haus herrschte drückende Hitze und eine unheimliche Stille.
Charbonneau baute sich links von der Tür auf, Claudel und ich rechts davon. Die beiden Detectives hatten die Jacketts aufgeknöpft, und Claudel hatte die rechte Hand an den Griff seiner Pistole im Schulterhalfter gelegt. Mit der linken klopfte er an die Tür. Keine Reaktion. Er klopfte noch einmal, mit demselben Ergebnis.
»St. Jacques?«
Stille.
»Monsieur St. Jacques?«
Immer noch Stille.
Charbonneau hob die Hand und sah mich an. Ich wartete, bis er das Zimmer aufgesperrt hatte und zusammen mit Claudel eingetreten war. Erst dann folgte ich ihnen mit klopfendem Herzen.
Der Raum war nur spärlich möbliert. In der linken hinteren Ecke hing an einer rostigen, halbkreisförmig gebogenen Stange ein rosa Duschvorhang. Unter dem Vorhang schauten die Füße einer Kommode und ein paar Rohre hervor, die vermutlich zu einem Waschbecken führten. Die Rohre waren stark verrostet und von
Weitere Kostenlose Bücher