Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Verbrechen und Pornographie zu frönen. Vielleicht hat ja seine Ehefrau in dieser Hinsicht einen etwas anderen Geschmack als er und erlaubt dem Ärmsten nicht, sich zu Hause einen runterzuholen. Woher soll ich das wissen?«
»Und was ist mit der Liste?«
»Wir überprüfen gerade die Namen und Adressen.«
»Sind welche in St. Lambert dabei?«
Claudel machte wieder eine Pause.
»Nein.«
»Haben Sie neue Informationen darüber, wie er an die Scheckkarte von Margaret Adkins herangekommen sein könnte?«
Dieses Mal war die Pause noch länger und spürbar feindselig.
»Dr. Brennan, wieso bleiben Sie nicht einfach bei Ihrer Arbeit und überlassen das Mörderfangen uns?«
»Ist er es?« Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen.
»Wer soll was sein?«
»Ist St. Jacques der Mörder?«
Auf einmal hörte ich nur noch den Wählton.
Den Rest des Vormittags verbrachte ich mit dem Versuch, Alter, Geschlecht und Größe eines Menschen anhand eines einzigen Ellenknochens zu bestimmen, den Kinder beim Herumbuddeln in der Nähe von Pointe-aux-Trembles gefunden hatten und der möglicherweise aus einem alten Friedhof stammte.
Um zwölf Uhr fünfzehn holte ich mir eine Cola Light, schloß die Bürotür und aß das Brot und den Pfirsich, die ich mir zum Mittagessen mitgenommen hatte. Ich drehte den Stuhl, so daß ich hinab auf den Fluß schauen konnte, und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Aber sie wollten gar nicht frei laufen. Wie Raketen, die sich an der Wärme eines Flugzeugtriebwerks orientieren, suchten sie sich immer wieder Claudel.
Er lehnte meine Serienmörder-Theorie nach wie vor ab. Hatte er am Ende doch recht damit? War es nicht möglich, daß die Übereinstimmungen reiner Zufall waren? Dachte ich mir vielleicht Verbindungen aus, die es in Wirklichkeit gar nicht gab? Hatte St. Jacques wirklich nur ein groteskes Interesse an Gewaltverbrechen? Filmproduzenten und Verleger verdienten mit so etwas viele Millionen Dollar im Jahr. Vielleicht war er wirklich kein Mörder, sondern hielt die Morde nur fest und spielte ein voyeuristisches Spiel, bei dem er die Frauen beobachtete und verfolgte. Vielleicht hatte er Margaret Adkins’ Scheckkarte irgendwo gefunden. Vielleicht hatte er sie kurz vor ihrem Tod gestohlen, und sie hatte sie noch nicht vermißt. Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht.
Nein. Das haute nicht hin. Wenn nicht St. Jacques, so mußte jemand anderer für diese Morde verantwortlich sein. Zumindest zwischen zweien bestand eine Verbindung. Ich wollte nicht abwarten, bis eine weitere verstümmelte Leiche die Richtigkeit meiner Theorie unter Beweis stellte.
Wie konnte ich bloß Claudel dazu bringen, daß er mich nicht mehr für ein Dummchen mit einer zu stark ausgeprägten Phantasie hielt? Es gefiel ihm überhaupt nicht, daß ich ihm ins Gehege kam. Er war der Meinung, ich würde damit meine Kompetenzen überschreiten. Deshalb hatte er mir auch gesagt, ich solle mich um meine eigenen Aufgaben kümmern. Und Ryan? Was hatte er gesagt? Daß Löcher in meiner Theorie seien. Daß ich nicht genügend Indizien hätte. Daß ich ihm eine offensichtlichere Verbindung nachweisen müsse.
»Na schön, Claudel, du Hurensohn. Ich werde Ryan seine Beweise bringen.«
Nachdem ich diese Worte laut ausgesprochen hatte, setzte ich mich wieder aufrecht hin und warf den Pfirsichstein in den Papierkorb.
Okay.
Was konnte ich am besten?
Ich grabe Leichen aus. Ich untersuche Knochen.
13
Im Histologielabor bat ich Denis, mir die Fälle Nummer 25906-93 und 26704-94 zu bringen. Dann machte ich den Arbeitstisch rechts vom Mikroskop frei und legte mein Klemmbrett und meinen Kugelschreiber darauf. Ich nahm mir zwei Tuben mit Vinyl-Polysiloxan und legte sie, zusammen mit einem kleinen Spatel, einem Block mit beschichtetem Papier und einer auf den hundertstel Millimeter genau messenden digitalen Schiebelehre neben das Klemmbrett. Inzwischen hatte Denis zwei sorgfältig beschriftete und versiegelte Pappkartons gebracht, die er an den Rand des Tisches stellte. Einer der Kartons war größer als der andere. Diesen öffnete ich zuerst und entnahm mir bestimmte Teile von Isabelle Gagnons Skelett, die ich auf der rechten Hälfte des Tisches auslegte.
Als nächstes öffnete ich den kleineren Karton. Obwohl Chantale Trottiers Leiche ihrer Familie zur Beerdigung übergeben worden war, hatten wir kleinere Knochenstücke als Beweisstücke zurückgehalten. Das war ein normales Vorgehen bei Mordfällen, in denen Knochenverletzungen eine Rolle
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