Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Kraft braucht, eher mal falsch an und schneidet bei diesem falschen Ansetzen auch tiefer. Und weil die Motorsäge schwerer als eine Handsäge ist und die Person, die sie verwendet, oft auch mehr Druck ausübt, gibt es längere Bruchstellen, wenn der Knochen am Schluß nachgibt und durchbricht.«
»Und was passiert, wenn ein wirklich starker Mensch mit einer Handsäge arbeitet?«
»Gute Frage. Persönliche Kraft und Geschick sind sicherlich Faktoren, die man berücksichtigen muß. Aber Motorsägen kann man noch an anderen Dingen erkennen, zum Beispiel daran, daß sie ihr Schnittmuster bereits beim Einschnitt erzeugen, weil sie sich da, anders als die Handsäge, schon in voller Bewegung befinden.« Ich hielt wieder inne, aber diesmal wartete Ryan, bis ich weitersprach. »Und dann neigen Motorsägen wegen der schnelleren Bewegung ihres Sägeblatts häufig dazu, die Schnittfläche richtiggehend glattzupolieren. Handsägen tun das normalerweise nicht.«
Ich holte Atem. Ryan schien zu warten, ob ich wirklich schon fertig war.
»Was meinen Sie mit ›falsch Ansetzen‹?«
»Wenn jemand zum Beispiel in einen Knochen schneidet und dann aus irgendeinem Grund die Säge wieder wegzieht und es woanders erneut probiert. So ein falsches Ansetzen ist für uns enorm wichtig, denn es versorgt uns mit einer Fülle an Informationen. Wenn eine Säge durch einen Knochen schneidet, bildet sie zuerst eine Kerbe mit schrägen Wänden. Dringt das Sägeblatt dann tiefer ein, werden die Wände gerade, und aus der Kerbe wird eine Furche mit einem ausgeprägten Boden. Man kann sie am besten mit einem Graben vergleichen. Wenn nun bei einem falschen Ansetzen das Sägeblatt weggezogen wird, bevor es den Knochen ganz durchschneidet, können wir an dem Einschnitt seine Breite und den Winkel bestimmen, in dem die Zähne zueinander stehen. Auch die Spuren, die das Sägeblatt an den Wänden des Einschnitts hinterläßt, sind hochinteressant.«
»Aber was ist, wenn die Säge den Knochen ganz durchschneidet?«
»Wenn der Schnitt den Knochen durchtrennt, kann man immer noch Spuren der Zähne an den Spänen der Abbruchstelle erkennen. Manchmal sieht man an den Schnittflächen auch Kratzer von einzelnen Zähnen.«
Ich öffnete den Karton noch einmal und holte den Speichenknochen von Isabelle Gagnons Unterarm hervor. Ich suchte die Spur eines falschen Ansetzens und richtete das Licht der Glasfaseroptik darauf.
»Hier, sehen Sie sich das an.«
Ryan beugte sich übers Mikroskop, sah hinein und drehte am Scharfstellknopf.
»Ja, ich sehe es.«
»Schauen Sie sich jetzt den Boden der Furche an. Was sehen Sie dort?«
»Klumpen.«
»Richtig. Diese Klumpen sind stehengebliebene Knochenteile. Ihr Vorhandensein bedeutet, daß die Zähne der Säge geschränkt waren, daß also die einzelnen Zähne abwechselnd nach rechts und links vom Blatt weg nach außen gebogen sind. Bei solchen Sägeblättern kommt es zu einem Phänomen, das man Sägeblattflattern nennt.«
Ryan hob den Kopf vom Okular und sah mich fragend an. Die Augenmuscheln hatten rote Ringe auf seinem Gesicht hinterlassen, die aussahen wie eine Schwimmbrille.
»Wenn der erste Zahn in den Knochen eindringt, versucht sich das Sägeblatt nach seinem Winkel auszurichten. Aber dann kommt der nächste Zahn, und das Sägeblatt tut genau dasselbe, nur in der entgegengesetzten Richtung. Dieser Vorgang wiederholt sich jedes Mal, wenn ein neuer Zahn zum Schneiden kommt, und so ist das Sägeblatt ständig wechselnden Kräften ausgesetzt und bewegt sich in der Schnittfurche hin und her. Ab einem bestimmten Zahnwinkel flattert das Sägeblatt so stark von einer Seite auf die andere, daß am Boden des Schnitts in der Mitte Material stehenbleibt. Winzige Knocheninseln, die unter dem Mikroskop aussehen wie kleine Klumpen.«
»Und daran erkennen Sie, wie die Zähne der Säge angewinkelt waren.«
»Ja, aber nicht nur das. Da ja der Richtungswechsel des Sägeblatts immer dann geschieht, wenn ein neuer Zahn zum Schneiden kommt, kann man am Abstand der Knocheninseln den Abstand zweier Sägezähne voneinander bestimmen. Und jetzt möchte ich Ihnen noch etwas zeigen.«
Ich nahm die Speiche fort und legte die Elle unters Mikroskop. Ich drehte sie so, daß die Schnittfläche oberhalb des Handgelenks zu sehen war. Dann trat ich einen Schritt zurück und ließ Ryan ins Okular blicken.
»Sehen Sie die wellenförmigen Linien an der Schnittfläche?«
»Ja. Sie sehen aus wie eine Art Waschbrett.«
»Wir nennen das
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