Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
nach. »Sieht mehr wie eine Kerbe aus. Nicht so rechteckig wie die anderen. Und auch nicht so breit.«
»Richtig. Dieser Schnitt stammt von einem Messer.«
Er richtete sich auf und hatte wieder seine Schwimmbrille um die Augen.
»Die Messerspuren haben ein merkwürdiges Muster. Viele von ihnen laufen parallel zu den Sägeschnitten, aber manche kreuzen sich auch im rechten Winkel. Am Hüftknochen und am Halswirbel kann ich überhaupt nur Messerspuren erkennen.«
»Und das bedeutet?«
»Ich habe Messerschnitte über und unter den Sägespuren gefunden. Also muß der Täter erst mit dem Messer, dann mit der Säge und dann wieder mit dem Messer gearbeitet haben. Ich glaube, daß er mit Säge und Messer Muskeln und Bänder durchgeschnitten hat und dann ganz sauber die Gliedmaßen an den Gelenken voneinander gelöst hat. Nur bei den Händen hat er aus irgendeinem Grund die Unterarmknochen mitten durchgesägt.«
Ryan nickte.
»Beim Enthaupten von Isabelle Gagnon hat er nur das Messer verwendet. An ihren Halswirbeln konnte ich keinerlei Sägespuren entdecken.«
Ein paar Augenblicke dachten wir beide schweigend über das Gesagte nach. Ich wollte, daß alles gut bei ihm angekommen war, bevor ich die eigentliche Bombe zündete.
»Ich habe auch die Knochen von Chantale Trottier untersucht«, sagte ich dann.
Die leuchtend blauen Augen blickten in meine. Ryans mageres Gesicht verzog sich in Erwartung dessen, was ich gleich sagen würde.
»Sie tragen genau dieselben Spuren.«
Ryan schluckte und atmete tief durch. Dann sagte er mit sehr ruhiger Stimme: »Der Kerl muß Kühlmittel in seinen Adern haben.«
Gerade als Ryan sich von der Theke abstieß, streckte der Hausmeister den Kopf ins Labor. Wir drehten uns beide in seine Richtung, und als er unsere ernsten Gesichter sah, verschwand er, ohne ein Wort zu sagen. Ryan blickte mir wieder in die Augen. Seine Kiefermuskeln mahlten.
»Berichten Sie Claudel, was Sie mir jetzt gezeigt haben. Damit können Sie ihn überzeugen.«
»Nein. Bevor ich diesen Ausbund an Liebenswürdigkeit informiere, muß ich erst noch ein paar Dinge klären.«
Ryan ging, ohne sich verabschiedet zu haben, und ich packte die Knochen wieder ein. Ich ließ die Kartons auf dem Tisch stehen und schloß das Labor ab. Als ich durch die Eingangshalle zum Aufzug ging, sah ich auf die Wanduhr: Halb sieben. Draußen wurde es langsam dunkel, und die ersten Autos hatten schon ihre Scheinwerfer eingeschaltet. Wieder einmal waren außer mir fast nur noch die Leute von der Reinigungsfirma im Haus. Ich wußte, daß es jetzt eigentlich zu spät für die Dinge war, die ich noch zu erledigen hatte, aber ich versuchte es trotzdem.
Ich ging zur letzten Tür auf der rechten Seite des Ganges. Auf dem Schild stand I NFORMATIQUE und der Name Lucie Dumont.
Lange hatte es gedauert, bis der Computer beim LML und LSJ seinen Einzug gehalten hatte, aber im Herbst 1993 war es endlich so weit gewesen. Seitdem hatte man kontinuierlich den Datenbestand ins System eingegeben, und jetzt konnte man zu aktuellen Fällen bereits sämtliche Daten aller Abteilungen des Hauses elektronisch abrufen. Auch Fälle aus vergangenen Jahren wurden nach und nach in die Datenbank eingearbeitet. L’Expertise Judiciaire war ins Computerzeitalter galoppiert, mit Lucie Dumont an der Spitze.
Ihre Tür war geschlossen. Ich klopfte, obwohl ich ahnte, daß sie nicht da sein würde. Um halb sieben Uhr abends war sogar Lucie Dumont schon weg. Ich trottete zurück zu meinem Büro, nahm das Büchlein mit den Mitgliedern der American Academy of Forensic Sciences zur Hand und fand den gesuchten Namen. Dann blickte ich auf meine Uhr. War es in Oklahoma jetzt fünf Minuten vor halb fünf oder fünf Minuten vor halb sechs?
»Ach, was soll’s?« sagte ich mir und wählte die Nummer. Als sich jemand am anderen Ende der Leitung meldete, fragte ich nach Aaron Calvert. Die Stimme erklärte mir näselnd, aber freundlich, daß ich mit dem Nachtdienst spräche und eine Nachricht hinterlassen könne. Ich nannte meinen Namen und meine Telefonnummer, legte auf und wußte immer noch nicht, in welcher Zeitzone Oklahoma liegt.
Das war alles ziemlich enttäuschend. Ich setzte mich einen Augenblick hin und bedauerte, daß ich diesen Anfall von Entschlossenheit nicht schon früher gehabt hatte. Dann hob ich den Hörer ein zweites Mal ab. Ich wählte Gabbys Nummer, bekam aber keine Antwort. Offenbar war ihr Anrufbeantworter kaputt. Als nächstes versuchte ich es unter ihrer
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