Tote Maedchen luegen nicht
Tylers Haus an.
Aber wie soll ich wissen, welches das richtige ist? Hannah hat nur die ungefähre Lage markiert, aber keine genaue Adresse angegeben.
Wenn sein Zimmer erleuchtet ist, kann ich vielleicht die Bambusjalousie erkennen.
Ich will die Häuser nicht zu lange anstarren, suche aber jedes von ihnen nach einer solchen Jalousie ab.
Vielleicht habe ich ja Glück und erblicke ein großes Schild: HIER WOHNT DER SPANNER - BITTE EINTRETEN!
Ich kann ein müdes Lachen über meinen dürftigen Scherz nicht unterdrücken.
Angesichts der Tatsache, dass ich nur auf den Knopf zu drücken brauche, um Hannahs Stimme zu hören, ist mein Lächeln wohl fehl am Platz. Andererseits ist es ein schönes Gefühl. Auch wenn es nur Stunden sind, kommt es mir so vor, als hätte ich seit Monaten nicht mehr gelächelt.
Dann sehe ich es plötzlich.
Mein Lächeln erstirbt.
Das Zimmer ist erleuchtet, die Jalousie geschlossen. Ein Spinngewebe von Klebeband hält die geborstene Scheibe zusammen.
Ein Stein? Hat jemand einen Stein gegen Tylers Fenster geschleudert?
Jemand, der Bescheid wusste? Jemand von der Liste?
Als ich näher herangehe, kann ich mir genau vorstellen, wie
Hannah neben dem Fenster stand und in ihr Aufnahmegerät geflüstert hat. Aus dieser Entfernung hätte ich sie unmöglich verstehen können. Und doch sind ihre Worte schließlich an mein Ohr gedrungen.
Eine eckige Hecke trennt das Grundstück von dem des Nachbarn. Ich gehe auf sie zu, damit ich vom Fenster aus nicht gesehen werden kann. Denn sicher späht Tyler hinaus in der Erwartung, dass jemand seinem Fenster endgültig den Garaus macht.
»Willst du etwas werfen?«
Ich zucke zusammen und fahre herum - bereit zuzuschlagen und wegzulaufen.
»Bleib relaxed! Ich bin’s!«
Marcus Cooley, ein Mitschüler.
Ich beuge mich vor und stütze erschöpft meine Hände auf die Knie. »Was machst du hier?«, frage ich.
Marcus hält mir einen faustgroßen Stein unter die Nase. »Nimm den!«, sagt er.
Ich blicke auf. »Warum?« »Weil du dich dann besser fühlst, glaub mir.«
Ich schaue zum Fenster hinüber, das vom Klebeband mühselig zusammengehalten wird. Dann senke ich den Blick und schüttele den Kopf. »Lass mich raten, Marcus. Du bist auf den Kassetten.«
Er schweigt. Eine Antwort erübrigt sich. Als ich ihn ansehe, erkenne ich ein Lächeln in seinen Augenwinkeln. Und dieses Lächeln sagt mir, dass er keine Gewissensbisse hat.
Ich nicke in Richtung von Tylers Fenster. »Warst du das?«
Er drückt mir den Stein in die Hand. »Du wärst der Erste, der Nein sagt, Clay.«
Mein Herz beginnt zu rasen. Nicht weil ich neben Marcus
stehe und Tyler womöglich aus dem Fenster späht. Auch nicht wegen des schweren Steins in meiner Hand, sondern wegen dem, was ich gerade gehört habe.
»Du bist der Dritte, der hier auftaucht«, sagt er, »abgesehen von mir.«
Ich versuche, mir vorzustellen, wie irgendein anderer als Marcus Tylers Fenster einwirft, jemand von der Liste, aber es gelingt mir nicht. Das ergibt für mich keinen Sinn.
Wir stehen doch alle auf der Liste. Jeder Einzelne von uns. Wir alle haben uns schuldig gemacht. Was unterscheidet Tyler von uns?
Ich starre den Stein an, der in meiner Hand liegt. »Warum tust du das?«, frage ich.
Er zeigt die Straße hinunter. »Ich wohne da drüben. Dort, wo das Licht brennt. Ich beobachte Tylers Haus, um zu sehen, wer hier aufkreuzt.«
Ich frage mich, was Tyler seinen Eltern erzählt hat. Hat er sie gebeten, die Scheibe nicht zu ersetzen, weil möglicherweise noch mehr Steine fliegen werden? Und was könnten sie entgegnet haben? Wie er darauf kommt? Wollten sie die Gründe wissen?
»Alex war der Erste«, sagt Marcus. Es scheint ihm nicht das Geringste auszumachen, mir das zu erzählen. »Wir waren bei mir zu Hause, als er plötzlich fragte, wo Tyler wohnt. Ich wusste gar nicht, warum ihn das interessiert, weil sie nicht unbedingt befreundet sind, aber Alex wollte es unbedingt wissen.«
»Und dann hast du ihm einen Stein gegeben, damit er Tylers Fenster einwirft?«
»Nein, das war seine Idee. Ich wusste damals noch gar nichts von den Kassetten.«
Ich werfe den schweren Stein in die Luft und fange ihn mit der anderen Hand auf. Selbst wenn die Scheibe noch unbeschädigt wäre, würde sie diesem Stein nicht standhalten. Warum hat Marcus diesen Stein für mich ausgewählt? Warum soll ausgerechnet ich derjenige sein, der sie endgültig zertrümmert?
Ich werfe den Stein in meine andere Hand zurück. Über seine Schulter
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