Tote Maedchen luegen nicht
dieses Riesending - na, ihr wisst schon - vor den Toren der Stadt geöffnet hat.
Ja, ich kann mich daran erinnern. Hannahs Eltern waren zu dieser Zeit ständig in den Lokalnachrichten zu sehen und warnten vor dem neuen Einkaufszentrum, das viele Geschäfte in der Innenstadt in den Ruin treiben würde. Sie sagten, dass dann niemand mehr dort einkaufen würde.
Zu dieser Zeit kam ich an meine Eltern kaum noch heran. Plötzlich gab es so viele andere Dinge, die sie im Kopf hatten. Sie sprachen zwar noch mit mir, aber es war nicht mehr dasselbe wie früher.
Meine Mutter hat nicht mal bemerkt, dass ich mir die Haare abgeschnitten hatte.
Und ob es jemand in der Schule bemerkt hat, weiß ich auch nicht. Danke, Zach!
Ich habe es bemerkt.
Auch Mrs Bradley hatte eine Papiertüte, die an dem Buchständer befestigt war.
Sie hat uns ermuntert, ihr ein Feedback über ihren Unterricht zukommen zu lassen. Sie wollte auch, dass wir ihr Themen für den weiteren Unterricht vorschlugen.
Ich habe ihr Angebot angenommen und ihr Folgendes geschrieben: »Selbstmord. Das ist etwas, worüber ich nachdenke. Nicht besonders ernst, aber ich habe darüber nachgedacht.«
Das war meine Nachricht. Wortwörtlich. Ich weiß den Wortlaut noch ganz genau, weil ich den Zettel x-mal geschrieben habe, ehe ich ihn endlich in ihre Tüte steckte. Ich habe ihn geschrieben und weggeworfen, erneut geschrieben, zerknüllt und weggeworfen und so weiter ...
Aber wozu das Ganze? Das habe ich mich mit jedem neuen Zettel gefragt. Außerdem war es eine Lüge. Ich hatte noch nie daran gedacht. Nicht wirklich. Nicht im Detail. Der Gedanke war mir irgendwie durch den Kopf gegangen, doch ich wollte nichts von ihm wissen.
Habe ihn weit von mir fortgeschoben.
Im Unterricht haben wir nie über dieses Thema gesprochen. Doch war ich sicher, dass sich schon einige mit diesem Thema beschäftigt hatten. Warum also sollten wir nicht in der Gruppe darüber diskutieren?
Vielleicht steckte aber auch etwas anderes dahinter. Vielleicht wollte ich, dass sie herausfand, wer diesen Zettel geschrieben hatte, und mir zu Hilfe kam.
Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich habe stets darauf geachtet, nicht zu viel von mir preiszugeben.
Die kurzen Haare. Deine ausweichenden Blicke auf dem Flur. Du warst vorsichtig, doch es gab Zeichen. Kleine Zeichen zwar, doch sie waren da.
Und dann hast du dich plötzlich gewehrt.
Nur dir habe ich mich geöffnet, Zach. Du hast gewusst, dass
ich Mrs Bradley diesen Zettel geschrieben habe. Du musst es gewusst haben. Einen Tag nachdem ich dich erwischt habe, hat sie ihn gelesen. Einen Tag nachdem ich den Zusammenbruch auf dem Flur hatte.
Wenige Tage bevor sie die Tabletten nahm, war Hannah wieder ganz die Alte. Sie grüßte jeden, dem sie begegnete. Sie sah uns in die Augen. Das war mehr als erstaunlich, weil sie sich seit Monaten nicht mehr so verhalten hatte. Wie die richtige Hannah.
Aber du hast nichts getan, Zach. Selbst als Mrs Bradley das Thema zur Sprache brachte, hast du nichts unternommen.
Eine wirklich drastische Veränderung.
Was wollte ich von der Klasse? Ich wollte hören, was die Leute zu sagen hatten. Ich wollte die Gedanken und Gefühle jedes Einzelnen kennen.
Und was ich alles zu hören bekam!
Einer sagte, es sei schwierig, jemandem zu helfen, solange man nicht weiß, warum er sich umbringen will.
Ich verkniff mir den Hinweis, dass es ja auch ein Mädchen sein könnte.
Dann beteiligten sich immer mehr an der Diskussion.
»Wenn er einsam ist, könnten wir uns beim Lunch zu ihm setzen.«
»Wenn’s an den Noten liegt, könnten wir ihm Nachhilfe geben.«
»Wenn es Schwierigkeiten zu Hause gibt, könnten wir ... vielleicht irgendwie vermitteln.«
Doch alles, was sie sagten - absolut alles -, zeigte einen gewissen Widerwillen, sich überhaupt mit diesem Thema zu beschäftigen.
Dann sprach ein Mädchen aus, was alle dachten: »Mir
scheint, dass die Person sich nur wichtigmachen will. Wenn sie es ernst meinte, dann würde sie auch ihren Namen sagen.«
Oh Gott! Es wäre total sinnlos gewesen, wenn sich Hannah der Klasse geöffnet hätte.
Ich konnte es nicht glauben.
Schon früher hatte Mrs Bradley einen Haufen Themenvorschläge in ihrer Tüte gefunden. Wir haben daraufhin über Abtreibung, Gewalt in der Familie und Aufrichtigkeit in Beziehungen diskutiert. Keiner hat sich je darum gekümmert, von wem der Vorschlag gekommen war. Doch anscheinend hatte niemand Lust, ohne konkreten Anlass über Selbstmord zu sprechen.
Ungefähr
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