Tote Maedchen luegen nicht
größeren versteckten Metapher?
Das ist jetzt schon die achte Person, Hannah. Wenn es um Gedichte geht, dann kann ich nicht gemeint sein. Und es bleiben nur noch fünf Namen.
Ich habe Lyrik immer gehasst, bis mich jemand auf den Geschmack gebracht hat. Er sagte mir, ich solle ein Gedicht zunächst als Rätsel betrachten. Der Leser hat die Aufgabe, den Code beziehungsweise die Bedeutung der Wörter zu entschlüsseln, und das tut er, indem er sein ganzes Wissen über das Leben und über Gefühle zur Geltung bringt.
Ist Rot ein Symbol für Blut? Zorn? Lust? Oder hat die Schubkarre im Gedicht nur deshalb eine rote Farbe, weil »rot« besser klingt als »schwarz«?
Ich erinnere mich an das Gedicht. Wir haben es mal im Englischunterricht behandelt. Es gab eine große Diskussion darüber, was das Rot bedeuten sollte. Was dabei am Ende herausgekommen ist, habe ich vergessen.
Dieselbe Person, die mir die Schönheit von Gedichten gezeigt hatte, hat mir auch die Freude am Schreiben von Lyrik vermittelt. Ganz ehrlich - es gibt keine bessere Art, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, als durch Gedichte.
Oder Kassetten.
Wenn du wütend bist, brauchst du kein Gedicht zu schreiben, das den Anlass deiner Wut behandelt. Aber es muss ein wütendes Gedicht sein. Also los... fangt an zu schreiben! Ich weiß, dass ihr zumindest ein bisschen wütend auf mich seid.
Und wenn ihr damit fertig seid, dann versucht, es zu entschlüsseln, als wäre es ein Gedicht, das ihr gerade in einem Schulbuch entdeckt habt und über dessen Autor ihr nichts wisst. Das kann zu erstaunlichen... und beunruhigenden Ergebnissen führen. Aber es ist immer noch billiger als eine Therapie.
Vielleicht hätte eine Therapie dir geholfen, Hannah.
Ich habe mir ein Notizbuch gekauft, in das ich all meine Gedichte schreibe.
An mehreren Tagen die Woche gehe ich nach der Schule ins Monet’s und schreibe ein, zwei Gedichte.
Meine ersten Versuche waren bescheiden. Weder besonders tiefsinnig noch subtil, sondern frei von der Leber weg. Aber etwas habe ich doch zustande gekriegt. Jedenfalls bilde ich mir das ein.
Ohne dass ich mir besondere Mühe gegeben hätte, konnte ich das erste Gedicht aus meinem Notizbuch bald auswendig. Und bis heute ist es mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen,
sosehr ich es auch versucht habe. Hier ist es also, zu eurem Vergnügen... oder eurer Belustigung:
Wäre meine Liebe ein Meer
es gäbe kein Land
wäre sie eine Wüste
sähe man nichts als Sand
wäre meine Liebe ein Stern
hoch am Himmelszelt
dann strahlte der Himmel
bis ans Ende der Welt
Ihr könnt ruhig lachen. Aber wenn das Gedicht auf einer Glückwunschkarte stände, würdet ihr sie bestimmt kaufen.
Tief in meiner Brust spüre ich einen plötzlichen Schmerz.
Das Wissen, dass ich später ins Monet’s gehen und Gedichte schreiben würde, machte die Tage für mich erträglicher. Wenn etwas Lustiges, Schreckliches oder Schmerzhaftes geschah, dann dachte ich daran, dass daraus ein faszinierendes Gedicht entstehen könnte.
Über meine Schulter hinweg sehe ich, dass Tony hinausgeht. Wie merkwürdig.
Warum hat er sich nicht von mir verabschiedet?
Ich betrachte diese Kassetten als eine Art poetische Therapie.
Durch das große Fenster sehe ich, wie Tony ins Auto steigt.
Indem ich euch diese Geschichten erzähle, wird mir vieles klar. Einiges über mich selbst, doch auch über euch. Über euch alle.
Die Scheinwerfer blenden auf.
Und je näher wir dem Ende kommen, desto mehr Zusammenhänge
fallen mir auf. Tiefe Zusammenhänge. Manche, von denen ich erzählt habe, verbinden die einzelnen Geschichten miteinander. Von anderen habe ich euch noch gar nicht erzählt.
Der Mustang zittert, als Tony den Motor startet. Dann setzt er langsam zurück.
Vielleicht habt ihr ja Verbindungen entdeckt, die mir noch verborgen sind. Vielleicht seid ihr der Dichterin einen Schritt voraus.
Nein, Hannah. Ich komme kaum noch mit.
Und wenn ich meine letzten Worte sage... zumindest die letzten Worte auf dieser Kassette... wird es eine dichte, vielschichtige, emotionale Zusammenballung von Wörtern sein.
Anders ausgedrückt, ein Gedicht.
Tonys Auto durch die Fensterscheibe zu betrachten, ist so, als würde man einen Film sehen, in dem der Mustang langsam von der Bildfläche verschwindet. Doch statt allmählich zu verblassen, während er zurücksetzt, erlöschen die Scheinwerfer plötzlich.
Als hätte er sie ausgeschaltet.
Wenn ich zurückblicke, wird mir klar, dass ich in dem Moment mit dem
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