Tote Maedchen luegen nicht
zehn Minuten lang hat Mrs Bradley ein paar Statistiken heruntergeleiert - lokale Statistiken -, die uns alle überraschten. Wenn es um Jugendliche geht, sagte sie, würden die Zeitungen meist nicht darüber berichten, es sei denn, der Selbstmord habe an einem öffentlichen Ort stattgefunden und es gebe Zeugen dafür. Denn die Eltern wollen natürlich verheimlichen, wenn sich ihr Kind - das Kind, das sie großgezogen haben - das Leben genommen hat. Oft wird der Anschein erweckt, es habe sich um einen Unfall gehandelt. Die Kehrseite ist, dass niemand genau weiß, was in der eigenen Umgebung wirklich vor sich geht.
Trotzdem kam in unserer Klasse keine richtige Diskussion in Gang.
Wollten sie ihre Nase einfach gerne in die Angelegenheiten anderer Leute stecken, oder glaubten sie wirklich, nur dann helfen zu können, wenn sie die Einzelheiten kannten? Ich weiß es nicht. Vielleicht beides.
Während der ersten Stunde bei Mr Porter habe ich sie beobachtet. Wenn das Thema Selbstmord zur Sprache gekommen
wäre, hätten wir vielleicht Blickkontakt bekommen und ich hätte in ihren Augen lesen können.
Und ehrlich gesagt weiß ich auch gar nicht, was sie hätten sagen können, um mich irgendwie zu beeinflussen. Vielleicht war ich ja wirklich zu egozentrisch. Vielleicht wollte ich bloß im Mittelpunkt stehen. Vielleicht wollte ich nur, dass die anderen über mich und meine Probleme diskutierten.
Gemessen an dem, was sie mir auf der Party gesagt hat, hätte sie sich gewünscht, dass ich ihre Probleme erkenne. Sie hätte mich direkt angesehen und inständig gehofft, dass ich sie erkenne.
Vielleicht habe ich mir aber auch gewünscht, dass jemand mit dem Finger auf mich zeigt und fragt: »Spielst du etwa mit dem Gedanken, dich umzubringen, Hannah? Bitte tu das nicht, Hannah! Bitte!«
Doch in Wahrheit war ich die Einzige, die diese Worte ausgesprochen hat. Tief in meinem Inneren habe ich sie an mich selbst gerichtet.
Am Ende der Stunde teilte Mrs Bradley eine Broschüre aus mit dem Titel: Die Warnsignale suizidgefährdeter Menschen . Und jetzt ratet mal, was zu den Top Five gehörte!
»Eine plötzliche Veränderung des äußeren Erscheinungsbilds.«
Ich fuhr mir durch meine kurz geschorenen Haare.
Wer hätte gedacht, dass mein Verhalten so vorhersehbar ist?
Indem ich die Wange gegen meine Schulter presse, sehe ich aus dem Augenwinkel heraus, dass Tony immer noch in seiner Nische sitzt. Sein Hamburger ist ebenso verschwunden
wie ein Großteil seiner Pommes. Er hat nicht den kleinsten Schimmer, was ich hier durchmache.
Ich öffne den Walkman, ziehe Kassette Nummer vier heraus und drehe sie um.
KASSETTE 4: SEITE B
Hättet ihr gern die Fähigkeit, die Gedanken der anderen hören zu können?
Natürlich! Jeder beantwortet diese Frage mit Ja, ohne näher darüber nachzudenken.
Was wäre zum Beispiel, wenn andere eure Gedanken hören könnten? Wenn sie euch beim Denken belauschen könnten ... in diesem Moment?
Verwirrung und Niedergeschlagenheit. Davon würden sie hören. Auch von Zorn. Sie würden hören, wie mir die Worte eines toten Mädchens durch den Kopf gehen. Eines Mädchens, das mich aus unerfindlichen Gründen für ihren Selbstmord verantwortlich macht.
Manchmal haben wir Gedanken, die wir selbst nicht verstehen. Gedanken, die nicht aufrichtig sind. Die nicht unsere wahren Gefühle wiedergeben, die uns aber trotzdem beschäftigen, weil sie so interessant sind.
Ich drehe den silbernen Serviettenhalter so weit, bis sich Tony in dessen glänzender Oberfläche spiegelt. Er lehnt
sich zurück und wischt sich die Hände an einer Serviette ab.
Wenn man andere beim Denken belauschen könnte, würde man einiges hören, das wahr ist, und anderes, das mit der Wahrheit nicht das Geringste zu tun hat. Doch man könnte beides nicht voneinander unterscheiden. Die Frage, was wahr ist und was nicht, würde einen in den Wahnsinn treiben. Unzählige Gedanken und Vorstellungen, deren Sinn dir verschlossen bleibt.
Ich weiß nicht, was Tony gerade denkt. Er hat keine Vorstellung davon, was mich hier beschäftigt. Und natürlich hat er keine Ahnung, dass es Hannahs Stimme ist, die aus seinem Kopfhörer dringt.
Das liebe ich so sehr an Gedichten. Je abstrakter sie sind, desto besser. Wenn man nicht weiß, wovon der Dichter überhaupt spricht. Du hast eine Idee, bist dir aber nicht sicher. Jedes so sorgsam gewählte Wort kann die verschiedensten Bedeutungen haben. Wird es einfach symbolhaft verwendet oder gehört es zu einer
Weitere Kostenlose Bücher