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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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die Hocke und legte ihr die Hand auf die Wange. »Es tut mir leid«, sagte ich.
    »Du Schwein! Du verdammter Scheißkerl!«
    Große Tränen liefen mir über die Finger, kalt und fremdartig; und Primaveras Haut ... ihre Haut glich einer Zusammensetzung aus PVC und der Epidermis eines Milchmädchens ‒ weißer, kühler Kunststoff, von einer Falschheit, die ebenso verführerisch war wie mitleiderregend; eine Falschheit, die von den blonden Haaren mit den cartierschwarzen Strähnen und den smaragdgrün gesprenkelten, eigentlich schwarzen Augen unterstrichen wurde.
    Zähne blitzten; Schmerzen brandeten in mir auf. Mit bestialischer Schnelligkeit hatte sie mir, durch das Hemd hindurch, ihre süßen Miezekatzenzähne in die Brust geschlagen. Ich hob die Fäuste, aber die Opiate in ihrem Speichel waren bereits in meinen Blutkreislauf gelangt; ich rief der Invasion ihrer Küsse ein Kamerad! entgegen.
    Hinter meinen Augenlidern explodierten Granaten; ich war ihr Brückenkopf, das erste Opfer in einem Guerillakrieg gegen die Menschheit. Ich wurde von einer fünften Kolonne infiltriert, einer Armee von Mikrorobotern, die es darauf abgesehen hatten, die Herrschaft über meine Keimzellen zu übernehmen. Es waren Milliarden! Jedes X wurde erobert, jedes Y ignoriert. Sie würden warten, bis ich eine menschliche Gebärmutter mit meinem Sperma füllte, um die Macht zu ergreifen und ein Marionettenregime zu etablieren.
    Ein blauweißer Blitz ...
    Grabsteine. Die Kutsche. Nacht senkt sich herab.
    Primavera fiel über mein Gehirn her.
    Als ich aus postkoitalem Schlaf erwachte, lag ich auf dem harten Boden des Pavillons, den Kopf voller Mittsommerträume. Primavera schlummerte weiter, allem Anschein nach mit sich und der Welt im Reinen ‒ ihre Brust hob und senkte sich sanft, während sich ihre Wange an meine schmiegte.
    Der Rock war ihr bis zur Taille hochgerutscht; ihr Bauchnabel, jener dunkle Brunnen der Unvernunft, kräuselte sich im regelmäßigen Rhythmus ihres Pulsschlags.
    Ich löste mich von ihr, glitt zu ihrem Bauch hinunter und spähte über den Nabelrand: Wenn ich einen kleinen Stein genommen und ihn in diesen Brunnen geworfen hätte, hätte ich dann, lange Sekunden später, ein Echo, einen Querschläger, ein Platschen gehört? Ich tat die Vorstellung mit einem Kopfschütteln ab und griff in meinen Hosenbund, wo ich kaltes Metall an meinem Oberschenkel spürte.
    Vorsichtig umfasste ich das Skalpell und hielt die Klinge an den Bauchnabel; dieser wölbte sich und zog sich dann in sich zurück, und die Klinge zitterte wie eine Lotschnur über dem Eingang zur Hölle. Ich musste an das Magazin denken, das Myshkin mir gezeigt hatte, die Fotografien lebend sezierten Fleisches, und hielt die Klinge über die Mitte ihres Bauches, eine Haaresbreite über die straffe Vinylhaut.
    Ich würde ihr nicht wehtun; ich würde ihr nie wehtun. Das war nur ein Spiel. So tun als ob. Primavera seufzte; ich ließ das Skalpell in meinem Hosenbund verschwinden.
    Zu spät; aus ihrem Bauchnabel erhob sich, blass und grün wie das Phantom eines Flaschengeistes, ein Lichtstrahl und brach sich über meinem Kopf. Ich geriet in Panik und legte die Hände auf die blutende Öffnung. Sie würde jeden Moment aufwachen!
    Aber sie rührte sich nicht.
    Ich presste ein Auge an die Lichtquelle, ein Voyeur vor dem Gemach seiner Geliebten.
    Was ging da drin vor sich?
    Es war ein Stummfilm, wie sie am Ende einer Seebrücke zur Volksbelustigung gezeigt werden. Männer, Frauen, Kinder ‒ grün getönte Gestalten ‒ erwachten flimmernd zu scheinbarem Leben. Dann kam Farbe hinzu. Und Ton: Homunculigeplapper; die Erde drehte sich; Vögel krächzten traurig. Primavera träumte. Und sie träumte vom Tod.
    Ich sah mich in der Mitte eines großen Friedhofs stehen. Mausoleen und Grabsteine zeichneten sich am Horizont ab. Der Abend dämmerte; unter dem rötlichen Himmel war alles still. Die Trauernden waren fortgegangen. Unter mir ein offenes Grab. In den Stein stand gemeißelt: Ignatz Zwakh, 2056-68. Gedenket meiner, aber ach, vergesst mein Schicksal. Eisige Finger griffen nach meiner Hand.
    »Es gibt keinen anderen Weg. Das weißt du doch, oder?« Primaveras Mantel glich einem Designerleichentuch; die mit grünem Satin gefütterte Kapuze umrahmte ihr lebloses Gesicht. »Begierde ist Tod. Lebendiger Tod.«
    Sie führte mich durch die Nekropole zu einem wartenden Vierspänner. Eine verweste Leiche mit einem Mundschutz hielt die Zügel.
    »Staub zu Staub. Silizium zu Silizium.

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