Tote Mädchen
Die Schläger. Die Kliniken. Die Männer in weißen Kitteln. Die Puppen.«
Wir stiegen ein. Die Peitsche knallte. Wir galoppierten über den Friedhof. Sensenmänner, verstümmelte Cherubim und andere memento mori starrten, während wir an ihnen vorbeirasten, zu uns herein.
Primavera schmiegte sich an mich. Die Trübung ihrer Augen ‒ ihrer dunklen, seit ihrer Mutation von grünen Splittern durchbrochenen Augen ‒ lichtete sich, wurde sterblich. Einsamkeit spiegelte sich in ihnen. Und Furcht.
»Die Nacht bricht herein.« Ihr Atem strich mir kalt über die Wange. »Bleib bei mir. Lass mich in meinem Grab nicht allein. Wir können immer weiter fahren. Für Menschen und Puppen gibt es kein Entkommen. Alles ist grenzenlos und ewig. Wie das Verlangen. Und der Tod.«
Eine kleine, weiße, von blauen Adern durchzogene Hand, eine Kinderhand, glitt mir zwischen die Beine.
Die Räder polterten über Knochen und Stein.
Das Licht verblasste; das Bild löste sich auf. Primavera erwachte. Ich nahm sie in die Arme.
»Wie viel Uhr ist es?«, murmelte sie.
»Keine Ahnung. Meine Uhr ...« Meine Uhr war kaputtgegangen.
Als hätte ihr jemand eine Ohrfeige versetzt, zuckte Primaveras Kopf herum, und sie stieß ein erschrockenes Keuchen aus. »Draußen wird es schon dunkel!«, sagte sie. »Schnell, bind mich los!« Ich befreite sie von ihren Spitzenfesseln. »Ich muss nach Hause. Ich bin schon viel zu spät dran! Meine Mum findet es auch so schon furchtbar genug, dass ihre Tochter eine Puppe ist. Ich will nicht, dass sie auch noch denkt, ich sei auf die schiefe Bahn geraten.«
Zitternd knöpfte sie sich ihre Bluse zu und wischte den Staub von ihrem Sportslip. »Ich konnte nicht anders«, sagte sie, den Blick auf das Pentagramm gerichtet, das über ihrer Brust prangte. »Das Gift ist schuld.« Sie legte sich eine Hand auf den Bauch. »Hier. In mir drin. Manchmal ... manchmal tut es ganz arg weh. Ich möchte keine Lilim sein. Wirklich nicht! Ich möchte, dass ... dass alles wieder so ist wie früher.«
In England ist jedes Mädchen menschlich; oder war es einmal. Und Primaveras Metamorphose hatte erst vor wenigen Monaten begonnen. Ein solches Mädchen kratzt, wie eine aus dem Schlaf aufgeschreckte Larve, manchmal ängstlich an ihrem Kokon. Sie weiß, dass sie sich in etwas anderes verwandelt ‒ in schwindelerregende Begierde, in ein totes Mädchen, das ihren Namen trägt.
»Du wirst es niemandem verraten, ja?«, fragte sie. »Wenn du ...«
»Ich behalt’s für mich«, erwiderte ich. »Versprochen.«
Sie beugte sich vor und küsste mich ‒ ein Geisterkuss, ein kaum spürbarer Hauch. »Meinst du das ehrlich?«
»Ich bin nicht wie die anderen.«
»Scheißkerl!« Sie lachte leise.
»Wirklich! Hör zu: Ich hab nächste Woche Geburtstag. Magst du auf meine Party kommen?«
»Und was werden deine Eltern dazu sagen? Eine Puppe auf der Party ihres Söhnchens?«
»Meine Eltern sind nicht so.«
Sie runzelte die Stirn und versetzte mir im Scherz einen Nasenstüber. »Vielleicht«, sagte sie. »Aber menschliche Jungen haben so oft Geburtstag. Nicht wie wir Puppen. Ich weiß nicht, ob ich wirklich kommen soll.« Sie stand auf. »Ich muss los.«
»Primavera«, sagte ich. »Sei meine Freundin.«
»Dummkopf!«
»Ich würde nicht zulassen, dass sie dir etwas tun«, sagte ich. »Nie wieder.«
Sie kaute nachdenklich auf einer Haarsträhne und ging zur Tür hinüber. »Vielleicht komme ich zu deiner Party. Deine Eltern klingen nett. Meine Mum, nun ja ... sie behauptet, Lilith sei jetzt meine Mutter. Sie will auf keinen Fall mit mir gesehen werden. Die älteren Mädchen sagen immer, dass es die menschlichen Gefühle sind, die einem am meisten wehtun.«
Es würde ein Segen sein, wenn sie sich endlich ganz in eine Puppe verwandelt hatte.
Ich lag in der Finsternis, betastete die Wunden unter meinem Hemd und zählte (wie sie verlangt hatte) auf sechshundertsechsundsechzig (das Hemd würde ich wegwerfen müssen; rote Flecken zeugten von dem Verrat, den ich begangen hatte), bevor ich ihr in die Abenddämmerung folgte. Wären wir um diese Uhrzeit zusammen gesehen worden... Die Leute reden sonst, Iggy, wirklich! Der Himmel war violett und wurde allmählich schwarz, und die Ruinen, die den versteppten Park säumten, verloren sich im Schweigen der Schatten. Primavera war fortgeeilt, um ja rechtzeitig nach Hause zu kommen. Es war spät ‒ zu spät, um sich noch draußen herumzutreiben; nach Sonnenuntergang gehörte die Straße den großen
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