Tote Mädchen
seinen Traumgestalter.
» Longtemps ...« murmelte ich.
»Warte. Ich bin noch nicht im REM-Schlaf. Behalte den Alphawellenmonitor im Auge.«
Zeit. Die Melancholie von Erinnerung und verlorener Zeit. Haben Sie diese Mädchen gesehen? , fragten die Plakate an den Straßenecken; Primaveras Gesicht befand sich unter den Gesuchten. Manchmal schlich ich mich nachts auf das Dach unseres Hochhauses und richtete mein Teleskop auf Straßen und Häuser, auf verlassene Lagerhäuser und Fabriken ‒ auf alles, was einer Puppe als Versteck dienen mochte. Aber ich bekam nur Drohnen zu sehen, die ‒ wie jede Nacht ‒ ihre Lieferungen über die verbotene Zone transportierten.
Jener Sommer hätte nicht schöner sein können. Ihre Augen. Ihr Haar. Ihre Lippen. Ihre Zähne. Die Ekstase, die ihr Gift auslöste. Aber nun war der Sommer vorbei. Alles war verloren, so wie Primavera verloren war: Die Welt war voller Niedertracht.
»Die Puppen, die davonlaufen«, sagte ich, »meinst Du, die kommen weit?«
»Was?«
»Die Puppen, die davonlaufen!«
»Nicht jetzt, Ignatz.«
Träume. Vielleicht waren sie der einzige Ausweg. Softwareträume, in denen man sich verlieren konnte wie in einem längeren Gedankenspiel (oder, in Dads Fall, Wordwareträume, schmerzlindernd und in Echtzeit). Ich sah nach Dads Alphawellen. Bald würde ich mit meinem Vortrag beginnen und Worte, die für mich ebenso gut Maschinensprache hätten sein können, für Dads traumhungrigen Kopf in einen Trog herunterladen. Auch ich hatte Hunger; Primavera wurde seit einer Woche vermisst; ich bekam allmählich Entzugserscheinungen.
» Longtemps ...«
Nach einer halben Stunde überließ ich Dad seinen oneironautischen Entdeckungsreisen und zog mich in mein Zimmer zurück.
Als ich in jener Nacht aufwachte, glaubte ich noch zu träumen. Primavera schwebte vor meinem Fenster, zwanzig Stockwerke über der Straße; ihr Nachthemd bauschte sich in der mitternächtlichen Brise. Sie klopfte an die Scheibe, und ich schlafwandelte durch das Zimmer und ließ sie herein.
»Verdammte Scheiße, war das eine Kletterei ‒ schau dir mal meine Fingernägel an!« Sie versetzte mir eine Ohrfeige. »Wach auf, du Dummkopf!« Ich überquerte die Trennlinie zwischen Schlaf und Bewusstsein ‒ und stellte fest, dass sich nichts verändert hatte. »Ich verwandle mich mit jedem Tag mehr in eine Puppe.«
Ich wollte das Licht anmachen; sie packte mich am Handgelenk. Die amoralische Frivolität, die ihrem spröden Gesicht Glanz verliehen hatte, war dahin; sie war wieder ein Kind geworden, eine Zwölfjährige, deren Verletzlichkeit sehr menschlich wirkte. »Mir ist kalt«, sagte sie. Ich nahm sie in die Arme. »Ich bin mitten in der Nacht davongelaufen. Ohne Kleider.«
In ihrem weißen Nachthemd schien Primavera die Inkarnation jener Kaugummisammelkarten zu sein, die wir in der Schule untereinander tauschten: Nr. 52, Carmilla . Eine minderjährige Carmilla. Carmillas kleine Schwester vielleicht. Ich ließ meine Hand ihr Rückgrat hinuntergleiten und strich über ihr Kreuzbein, das trepaniert worden war, damit der Tzepa eindringen konnte.
»Wo hast du denn gesteckt?«
»Im Cricket-Pavillon.«
»Die ganze Woche?« Durch die Haut konnte ich ihre Knochen spüren; was hatte sie bloß gegessen? »Du hättest zu mir kommen sollen. Ich kann dich verstecken!«
»Verstecken nützt mir nichts. Ich muss von hier verschwinden. Du hilfst mir doch, Iggy, oder?« Ich packte sie etwas fester und wollte sie küssen; sie wandte sich ab und fixierte den Fernseher mit ihrem kalten Schlangenblick. »An«, sagte sie. Der Fernseher erwachte. »Toller Trick, was?« Ein abgebrochener Fingernagel blieb in meinem Schlafanzug hängen. »Wie können sie das nur tun?«
Ein großer runder Raum; drei Seziertische aus Marmor; auf jedem Tisch ... Das Bild flackerte über die Wände meines Schlafzimmers wie Projektionen einer infernalischen Laterna Magica.
»O mein Gott«, sagte Primavera, als die Kamera ein blasses Mädchengesicht heranzoomte, um den zarten Schmerz einzufangen. »Das ist Anna Belushi! Die kenne ich!« Die Herren von der englischen Presse bedrängten das sterbende Mädchen: Der Star in der Revue des Todes wurde zum Schluss noch einmal ausgiebig gefeiert.
»Miss Belushi, was halten Sie vom Erfolg der RF ?«
»Schauen Ihre Eltern heute Abend zu, Miss Belushi?«
»Miss Belushi, wie wäre es mit einem Schrei für die Zuschauer zu Hause?«
Blitzlichter explodierten, und Anna Belushi tat ihnen den
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