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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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Gejohle es vermocht hätte. »Ähu, ähu, ähu ‒ alle Mädchen, die in einer Klinik registriert sind, dürfen gehen.« Zoe, Zika und Zarzuela (die meisten Puppen waren zu Hause oder interniert) schlurften in den Korridor hinaus, ganz dem Fatalismus derjenigen erlegen, die von allen im Stich gelassen worden waren, sogar von sich selbst, hielten sie sich doch weder für Märtyrer oder Verbrecher, sondern für Dinge. Ihre Gesichter waren so ruhig wie meine Nächte unruhig, wenn ich im Bett lag und an Primavera dachte. Zoe, Zika und Zarzuela ‒ Zzz! Sie geisterten durch Traumpaläste und Traumgefängnisse, durch Ausgeburten meines fragmentierten Lebens: Schule, Park, Straßen, Hochhäuser: ein zerstreutes Puzzle, das zu etwas angeordnet worden war, das wirklicher war als das Original, ein Weltgebilde, in dem sich endlose Korridore erstreckten und immerfort Blut unter einer verschlossenen Schlafzimmertür hervorrann.
    »Die Integrität, die Integrität unserer Gefühle ... Zuneigung, Abscheu ... wird zersetzt, korrumpiert ...« Mr. Spink hatte sich an seinen Schreibtisch zurückgezogen und versteckte sich hinter einem Stapel von Schulheften. Der Monitor über der Tafel knisterte; Orgelmusik schwoll an; und Vlad Constantinescu, unser Conducător , blickte mit den stahlgrauen Augen eines strengen, aber gerechten Patriarchen auf uns herab.
    »Als der Vernichtungsbefehl letzte Woche das Oberhaus passierte und die Zustimmung des Königshauses erhielt, hat England nach Jahren der Verdunklung und des Wirrsals endlich das Böse in unserer Mitte zur Kenntnis genommen und sich auf den Weg der Genesung begeben. Dieser Weg wird ein langer sein, aber ...«
    Aber. Der Nachmittag war lang. Lang und heiß. Ich legte meinen Kopf auf den Tisch und blickte schläfrig zum Fenster hinaus. Wahlkampfflugblätter flatterten wie geteerte, verkrüppelte Vögel über den Pausenhof ‒ sie hatten ihre Aufgabe vollbracht. Dämoninnen , sagte Vlad. Hexen. Huren . Und er erzählte von seinen Vorfahren, dem Volk der Geister, von denen er seine Anweisungen und seine Macht erhielt. Draußen hatten sich kleine Jungen ‒ auf dem Weg von einer Unterrichtsstunde zur nächsten ‒ mit Treibholz bewaffnet und spielten Krieg. »SSSS!«, sagte einer von ihnen. Sein Gegner ging zu Boden, zuckte noch ein wenig und blieb dann still liegen. »RRRM!«, sagte ein anderer, dem vergessenen Zauber des Bleis verfallen. Körper krümmten sich in Zeitlupe, eine »Poesie der Gewalt«, wie Hollywood sie zelebrierte. Vampire , sagte Vlad. Säuberung .
    Unruhige Nächte. Du lagst im Bett (wie auch Vlad im Bett liegen musste) und ordnetest die Puzzleteile des Nimmerlands immer wieder neu an, bis sie deine grausigsten Gelüste sanktionierten. Aber von allen denkbaren Universen ‒ warum dieses? Dieses schäbige, banale und unvollständige Puzzle? Ein Weltgebilde, das von einem Zygodiddly-Video inspiriert zu sein schien? Ich wandte den Kopf. Myshkin starrte mich an ‒ verschlagen, argwöhnisch. Kanake, dachte ich bei mir. Rainham-Kanake. Geschlechtsloser, elender Slawe. Métèque ... Bis London sauber ist. Bis England sauber ist. Bis der ganze Planet sauber ist! Hinter der Milchglasscheibe der Tür turnten weiße Kniestrümpfe vorbei: Primaveras Dienerinnen übten Handstand gegen die Wand. Ich schloss die Augen. Der Nachmittag war lang. Lang und heiß.
    Das Läuten der Glocke, erst leise und tief in meinem Schädel, wurde lauter, schriller, hallte schließlich über meinen Schultisch. Kreischende Stühle und das grausame Lachen der Kinder folgten ihm. Ich setzte mich auf. Das Klassenzimmer hatte sich geleert. Nur Mr. Spink war noch da, völlig im Bann der hypnotischen Macht unkorrigierter Schulhefte. Der Monitor summte. Zoe, Zika und Zarzuela standen zögernd in der Tür. »Können wir unsere Sachen holen, Sir?« Mr. Spink nickte gleichgültig. Ohne mich anzuschauen griffen die drei Mädchen nach ihren Büchern; Zoe und Zika gingen hinaus, aber Zarzuela hatte den Kopf in ihrem Schreibtisch vergraben, einem Katastrophengebiet aus Comics und ausrangierten Kosmetika. Mit ihren schwarzglänzenden Locken war ihre Metamorphose weiter fortgeschritten als Primaveras, obschon ihre zweifarbigen Augen darauf hindeuteten, dass sie noch lange nicht vorbei war.
    »Ignatz?«, flüsterte sie. Mr. Spink rührte sich nicht. Ich stand auf und ging zu ihr hinüber, wobei ich so tat, als würde ich einen Aushang an der Wand betrachten.
    »Was ist?«
    »Hast du Primavera gesehen?«
    »Nein ‒

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