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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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Ein Plakat warb für ›Skin II‹, ein Prêt-à-porter-Derivat von Dermaplast; jemand hatte das Symbol der Reinheitsfront darauf gesprüht. Hastig versenkten wir unser Schlauchboot und wateten durch die knietiefe Brühe.
    »Wir können nie wieder zurück«, sagte ich.
    »Versprechungen, Versprechungen«, erwiderte Primavera. Sie klammerte sich an meinen Ärmel; noch waren ihre Augen nicht ganz grün und somit noch nicht in der Lage, im Dunkeln zu sehen. Die Taschenlampe erleuchtete eine Treppe. Froh darüber, unsere Füße aus dem Abwasser zu ziehen, begannen wir mit dem Aufstieg.
    »Schalte die Lampe aus«, sagte Primavera.
    »Aber ...«
    »Dort oben lauert uns vielleicht etwas auf, du Dummkopf!«
    Ich knipste die Lampe aus, hängte sie an meinen Gürtel und zog mein Skalpell hervor. Wir kletterten durch die Finsternis, bis ich den Fuß hob und nichts weiter vorfand als eine horizontale Stahlfläche.
    »Ich brauche Licht. Ich sehe rein gar nichts!« Ich schwenkte die Taschenlampe in einem Halbkreis und sah, dass wir den Rand einer von den Fluten zerstörten Bahnhofshalle erreicht hatten, aus der erstarrte Rolltreppen hinausführten.
    »Mach aus«, sagte Primavera. »Bitte.«
    Wir tasteten uns zur Oberfläche hinauf.
    »Riechst du das?«, fragte Primavera. »Das ist die Wildnis.«
    »Der Wilde Westen«, sagte ich. Eine Windbö strich mir übers Gesicht und brachte den Geruch von Regen und Verfall. Hinter verbogenen Stahlschranken warteten verlassene Straßen auf uns. Sterne funkelten.
    Ich nahm meinen Rucksack ab und reichte Primavera ein Handtuch und frische Kleider. Wir zogen uns beide aus und zogen statt unserer Schuluniformen (Primavera hatte meinen zu klein gewordenen Kinderanzug getragen) Jeans, Pullover und Anoraks an. Die alten Kleider versteckte ich hinter einem Fahrscheinautomaten.
    »Komm«, sagte Primavera und schritt in die Nacht hinaus, »lass uns einen Schlafplatz suchen.«
    Ich folgte ihr nicht gleich, sondern blickte zurück in die dunklen Tunnel. Mom und Dad, dachte ich, was werdet ihr morgen früh wohl sagen? Werdet ihr mir jemals verzeihen? Werde ich euch je wiedersehen? Ich musste an die Nachricht denken, die ich zurückgelassen hatte ‒ zusammengestoppelte Rechtfertigungsversuche, pubertäre Rhetorik, jedes zweite Wort durchgestrichen.
    »Jetzt komm schon, Iggy!« Ich wandte mich um und ließ meine menschliche Vergangenheit hinter mir. Und gab mir alle Mühe, froh darüber zu sein, dass ich sie los war.
    Bond Street war eine Wüste aus zersplittertem Glas und ausgebrannten Ladenzeilen, eine entweihte Gedenkstätte zu Ehren der Belle Époque. Primavera rettete ein zerfleddertes Designerkleid aus dem Rinnstein. Sie hielt es hoch und betrachtete es sachkundig.
    »Hey, das Teil ist wirklich schick! Damit lässt sich etwas anfangen.« Sie schaute sich staunend um. »All diese Läden! S Laurent . Gaultier . Ungaro ...«
    Ich stellte mir eine wieder hergerichtete Bond Street vor: ein Handelsplatz prächtiger Haute Couture ‒ eine Garderobe, in der ich meine Puppe einkleiden konnte, die fetischistische Miss P. Ich würde sie in Tutus und Trenchcoats stecken, sie mit schräg geschnittenem Leder, Unterwäsche aus Krokoimitat und Netzstrümpfen herausputzen. Außerdem würde ich ihr oberschenkellange Stiefel kaufen, eine pinkfarbene Nerzstola, Kettchen und neurotische Nuttenröckchen. Eine gefährliche Lady mit gefährlich viel Geld, die durch die Straßen streunte ...
    Ich holte den Stadtplan hervor. Dies war das andere London, eine Stadt mitternächtlicher Nocturnen; der Ort, an den unsere Schatten fliehen, wenn sie unser überdrüssig sind. »Wenn das stimmt, führt die Bond Street zur Piccadilly.«
    »Lass uns hier bleiben«, sagte sie und legte ihr Aschenputtelkleid zusammen. »Hier ist es irgendwie ... romantisch.«
    Glas splitterte.
    »Was war das?«
    »Passt!«, zischte ich. Alles schien ruhig. Ein Hund, dachte ich. Eine Katze. Eine Ratte. »Wir gehen besser irgendwo rein.«
    Wir traten durch die von Scherben übersäte Auslage des Ungaro und stiegen die verkohlte Treppe hinauf. Ungaro, so hatte mein Vater erzählt, war der erste Modeschöpfer gewesen, der Automaten auf den Laufsteg geschickt hatte, und in dem Büro im ersten Stock fanden wir mehrere zergliederte, geschändete Exemplare dieser frühen KIs.
    »Das sind also meine Vorfahren«, sagte Primavera.
    »Genauso wenig, wie meine Affen sind.«
    Sie hob den Kopf eines männlichen Models auf. »Nicht schlecht«, sagte sie.
    »Pass auf wegen

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