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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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der Batteriesäure.« Sie warf den Kopf zurück in das Beinhaus zu den anderen Ersatzteilen.
    »Nicht mehr viel übrig, was?«, sagte sie. Vergilbte, zerknautschte Dermaplastkleider lagen überall verstreut wie die abgestreifte Haut uralter Frauen; dazwischen verblasste Polaroids (mit Edelsteinen geschmückte Bauchnabel in Nahaufnahme) und Poster, die für Virgin Martyr warben (unter einer gekreuzigten Negerin würfelten Männer in Abendanzügen um eine Parfumflasche; die Inschrift auf dem Kreuz lautete La Reine des Parfums ).
    »Morgen früh suchen wir uns etwas anderes«, sagte ich.
    »Wenigstens werde ich so diese entsetzlichen Klamotten los.« Sie zog Jeans und Pullover aus. »Das ist von hier«, sagte sie und betrachtete das Etikett des Kleids, das sie auf der Straße aufgelesen hatte. »Ungaro.« Sie zog es sich über den Kopf. Es war schwarz und scharlachrot, mit Ganovenstreifen wie aus einem Comicstrip auf dem Oberteil, in der Taille gerafft und von der Hüfte bis zum Saum geschlitzt (mit Absicht oder mit Gewalt?) und hing sehr locker um Primaveras knospende Kurven. Diesen Look hatte ich schon in einigen von Moms alten Modemagazinen gesehen. Er wurde Apache genannt.
    »Es ist tot«, sagte Primavera.
    »Mach dir nichts draus. Irgendwann kaufe ich dir ein Dermaplastkleid, das es wirklich in sich hat.«
    Ich ging zu dem vorhanglosen Fenster hinüber; der Mond war kaum mehr als eine Sichel, die Straßen dunkel. »Mein Dad hat früher hier gearbeitet.«
    »Dein Dad?«
    »Als Hausmeister. Er hat sich um eine ganze Reihe der Läden hier gekümmert. Bevor ich geboren wurde, jedenfalls. Während der Aube du millénaire . Dad behauptet, damals sei die Welt noch einigermaßen anständig gewesen. Anständig! ›Du weißt bestimmt nicht, was das bedeutet, Iggy, aber dafür kannst du nichts. Es ist unsere Schuld; genauso wie es unsere Schuld ist, dass unsere Kinder keine Zukunft haben. Gott sei Dank haben wir nur dich!‹ Dad hat immer solches Zeug geredet. Früher seien die Leute anständiger gewesen, hätten einander geliebt und die Wahrheit gesagt ‒ du weißt schon. Aber in den letzten Jahren ... inzwischen redet er nur noch, wenn er muss. Er träumt und überlässt alles andere Mom. Aber wenn er erzählt ...« Ich wischte über die Scheibe und betrachtete den Schmutz auf meiner Hand. »Ich hätte nie gedacht, dass die Reinheitsfront gewinnt. Ich kann nicht fassen, was da jetzt passiert. Aber Dad hat gesagt, dass das nichts Neues ist: die Bösartigkeit, die Verdorbenheit, das Grauen unter der Oberfläche. Selbst während der Aube du millénaire hätte es nur darauf gewartet, uns aufzufressen.«
    »Du solltest dir lieber Gedanken darüber machen, was wir essen sollen.«
    Unter uns lagen die sagenhaften Ruinen von Londontown, ein Knochensack, ausgehungert und verlassen ‒ eine mehr als zweifelhafte Zuflucht. Die Straßen sahen aus, als hätte Dickens den Punk erfunden. Fast hätten wir uns in ihren Schatten verloren. Aber die noch unerprobte Magie einer Puppe (Primaveras Orientierungssinn war geradezu unheimlich) hatte uns vor vielem bewahrt, als wir auf dem Motorrad nach Westen gefahren waren. Das Klirren von splitterndem Glas kam jetzt näher, gefolgt von einem dumpfen, unmenschlichen Schmerzensgeheul. Irgendwo plünderten die Bewohner des Nimmerlands das Herz ihres Gefängnisses. Drohnen schwebten über den Dächern. Das Militär überwachte alles; eingreifen würde es nicht. Was kümmerten sie die Enteigneten? Proleten, Hinterwäldler, Morlocks: Ausgestoßene, deren einzige Hoffnung der anthropozentrische Chauvinismus der Reinheitsfront zu sein schien. Was kümmerte die da draußen unser Todestanz? Wieder ertönte das Geheul.
    »Hund?«
    »Ich werde keinen Hund essen!«
    »Mich?«
    »Schon besser.«
    »Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Wie in Der schweizerische Robinson . Wir müssen ...«
    »Hund kommt nicht infrage.«
    »Aber ...« Sie legte die Arme von hinten um mich; ich spürte ihre Nase, ihre Lippen zwischen meinen Schulterblättern, wie ein gescholtenes Haustier, das sich einschmeicheln möchte. »Na gut«, sagte ich. »Kein Hund.« Sie schob den Kopf unter meine Achseln.
    »Die Sterne«, sagte sie. »Allein unter den Sternen. Arme Primavera. Armer Iggy.«
    »Die Sterne können uns nicht helfen.«
    »Früher haben die Leute geglaubt, da draußen gäbe es Leben. Wir sind nicht allein , haben sie gesagt.«
    Ich musste lachen. »Die Sterne sind tot.« Sie schlüpfte mit lautem elektrostatischem Knistern

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