Tote Mädchen
bloßzulegen.« Die Unterhaltung wendet sich Nanorobotern zu, den neusten molekularen Maschinen. »Auf die Größe eines Moleküls reduziert, neigen Komponenten dazu, sich selbstständig zu machen; aber ich lerne allmählich, Quanteneffekte auszunutzen und das Chaos zu handhaben.« (Ein Blitzlicht explodiert.) »Inzwischen habe ich Assembler entwickelt, die nicht nur Atome manipulieren können, sondern auch subatomare Partikel. Die Automaten, die sie hier sehen, wurden von Cartier in Auftrag gegeben und entstammen einem mikrophysikalischen Reich, wo Geist und Materie, Traum und Wirklichkeit nebeneinander existieren. Wirklich fabelhafte Spielsachen, nicht wahr?« Er hebt die Hand zu einer Geste, die Titania und ihren Klan einschließt. »Meine Herren, ich präsentiere ihnen L’Eve Future !«
Der Applaus wird von einem Donnerschlag übertönt. Es fängt an zu regnen.
Daran kann ich mich nicht erinnern.
Es regnet Milch.
Und Treacle, Tinsel und Titania ‒ Modeaccessoires, denen wir kein Leben zuerkennen ‒ stehen mit offenem Mund da wie frisch geschlüpfte Küken; Regentropfen perlen ihnen über das zerwuschelte Haar, und ihre Kleider sind nass und klebrig; sie sehen aus wie in Ekstase erstarrte Totemtiere.
Titania?
Die Gäste rennen in Deckung, während das Gewitter über ihnen einen Höhepunkt erreicht; der weiße, zähflüssige Regen droht London zu überschwemmen. Die Flut reißt mich aus Mamas Armen, trägt mich unerbittlich weiter, auf Titania zu und auf die roten, roten Lippen, die einer riesigen, in Neonlicht getauchten Plakatwand gleichen, auf der für blutroten Lippenstift geworben wird.
»Nein!«, ruft Titania. »Nicht du, nicht du!«
Ich erwache schweißüberströmt. Im Keller wehte kein Lüftchen mehr. Titania zupfte ihr Kleid zurecht.
»So war es gar nicht«, sagte ich.
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Ich entweihe sogar die Vergangenheit.«
»Nein«, sagte ich. »Das ist schon in Ordnung. Wirklich!«
Sie presste sich die Hand auf den Bauch. »Es ist da. Du hast es gesehen. Das Malignom.«
Ich stand peinlich berührt auf und kaute auf der Unterlippe. »Ich hab doch gesagt, es ist in Ordnung. Es spielt keine Rolle. Genau genommen ...«
Titania krümmte sich vornüber, ihre kreidebleichen Gesichtszüge verzerrten sich zu einer Maske des Schmerzes.
»Bitte geh«, sagte sie. »Das wird schon wieder. Aber jetzt möchte ich alleine sein.« Ich zögerte. »Peter, bitte geh!«
Von Zweifeln erfüllt stieg ich zur Straße hinauf, nahm das Klapprad vom Kofferraum des Bentley und radelte nach Hause; vorher hatte sie mir versprechen müssen, dass sie mit dem Wagen nachkommen würde, sobald sie sich wieder gefasst hatte.
Ich respektierte ihre Wünsche immer.
Aber natürlich kehrte sie nicht zurück.
»Die Lilim«, sagte Nursie, während sie meine Spielsachen aufzog, »sind überall.« Sie gab mir mit spitzen Lippen einen Kuss auf die Wange.
An jenem Abend war Nursie durchs Haus gestapft und hatte gemurmelt: »Wo steckt nur dieses Mädchen? Wo ist diese Robotnik ?« Mein Vater schmollte allein in seinem Zimmer. Als sie jetzt neben meinem Bett stand, sagte mein Kindermädchen selbstzufrieden: »Ich habe es doch gesagt. Dir und deinem Vater! Aber hört hier irgendjemand auf mich? Nein! Krepelkova ist nur eine törichte Babuschka .« Sie hatte ein zerlesenes Taschenbuch im Schoß liegen: Das Puppenproblem ‒ Lilith und ihre Töchter , die Bibel der Reinheitsfront.
»Lilith war Adams erste Liebe. Aber sie war stolz und eitel und wurde ehebrüchig ...« Sie schlug das Buch auf und zog eine Fotografie zwischen den Seiten hervor. »Lilith ist die Gefährtin Satans, Peter. Sie ist die Königin der Sukkuben. Nachts besucht sie die Menschen, um ihre Kinder zu verderben ...« Sie hielt die Fotografie hoch. Das Porträt eines jungen Mädchens, einer blonden Manqué mit schwarzen Haarwurzeln, deren elfenhafte Züge verrieten, dass sie eine Rekombinante war: grüne hysterische Augen und eine kränklich blasse Gesichtsfarbe, die nahelegten, dass sie sich von Quark und Süßigkeiten ernährte. »Erst habe ich meinem Schwiegersohn die Schuld gegeben«, sagte Nursie. »Er hat mir nie erzählt, wie es passiert ist. Aber ich glaube nicht, dass er es darauf anlegte, untreu zu werden. Puppen können sehr verführerisch sein.« Sie betrachtete den Schnappschuss eingehend. »Man kann noch immer erkennen, dass sie teilweise menschlich ist. Wenn man genau hinschaut. Was war sie doch für ein entzückendes Kind, als sie
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